Babyboomer-Ersatz gesucht

Fachkräftemangel und eine Generation Babyboomer, die in Rente geht - die demografischen Herausforderungen für die Schweiz sind zahlreich. Lesen Sie im Beitrag von Chefökonom Schweiz, David Marmet, was das für das Schweizer Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum bedeutet.

Text: David Marmet

«Die Zuwanderung wird auch in den nächsten Jahrzehnten der wichtigste Treiber des Bevölkerungswachstums in der Schweiz bleiben», sagt David Marmet. (Bild: Getty Images)

Der Fachkräftemangel in der Schweiz geht ins Geld. Wie eine kürzlich veröffentlichte Studie darlegt, bleiben Online-Stelleninserate heute in vielen Branchen überdurchschnittlich lange aufgeschaltet. Der mittels Vakanzdauer abgeleitete volkswirtschaftliche Wertschöpfungsverlust betrage bis zu 0.66 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, was beinahe CHF 5 Mrd. pro Jahr ergibt.

Nach der Corona-Pandemie hat sich der Fachkräftemangel markant verschärft und beinhaltet durchaus eine konjunkturelle Komponente. Ein überraschend schnell steigendes Konsumbedürfnis führte zu einem kräftigen Aufschwung, was wiederum den Personalbedarf rasch erhöhte.

Dem Fachkräftemangel unterliegt aber auch eine mindestens ebenso wichtige strukturelle Komponente. Sie ist dem demografischen Wandel, konkret der alternden Bevölkerung, geschuldet. Die bis 1964 geborenen Babyboomer gehen allmählich in Pension. Damit scheiden erfahrene Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt aus, während gleichzeitig weniger junge Leute nachrücken.

Die Millionen jagen sich

Im 17. Jahrhundert überschritt die Schweizer Wohnbevölkerung erstmals die Schwelle von einer Million Menschen. In den frühen 1800er-Jahren war die zweite Million Tatsache und im Jahr 1891 lebten drei Millionen Menschen in unserem Land. Nur 35 Jahre später waren es bereits vier Millionen. Dann dauerte es weitere 29 Jahre (1955) bis auch die fünfte Million erreicht war. Beeindruckend ist das Tempo bis zur sechsten Million: Gerade einmal zwölf Jahre waren dafür nötig.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Geburtenrate ab 1946 mit der Babyboomer-Generation deutlich an. Diese Generation geht nun allmählich in Rente und bereitet den wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern Kopfzerbrechen. Mit dem Pillenknick Mitte der 1960er-Jahre sank die Geburtenrate wieder. Von der sechsten bis zur siebten Million dauerte es 27 Jahre. Anschliessend zogen 18 weitere Jahre ins Land, bis 2012 die achte Million Tatsache war.

Drei Treiber des Bevölkerungswachstums

Der Trend des Bevölkerungswachstums zeigt weiter nach oben. Allerdings haben sich die Treiber für das Wachstum in all den Jahrzehnten mehrmals verändert. So gebar eine Frau im 19. Jahrhundert im Durchschnitt vier Kinder. Bis zum Zweiten Weltkrieg fiel die Geburtenziffer auf 1,7 und stieg mit der Babyboomer-Generation wieder auf 2,4 an. In den letzten Jahrzehnten hat sich die durchschnittliche Geburtenziffer bei 1,5 eingependelt.

Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Schweiz ein Auswanderungsland. Mit dem anschliessenden wirtschaftlichen Aufschwung kamen dann Tausende Arbeitskräfte in die Schweiz, um zum Beispiel am Bau des Eisenbahnnetzes mitzuarbeiten. 1914 erreichte der Ausländeranteil mit 15 Prozent an der Gesamtbevölkerung einen ersten Höchststand. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs im gleichen Jahr endete die bis dahin praktizierte Freizügigkeit und in der Folge sank der Zuwanderungssaldo. Der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg liess den Bedarf an ausländischen Arbeitskräften indes rasant steigen. Dies löste in der Bevölkerung Ängste aus und führte zu einer restriktiveren Zuwanderungspolitik. Seit dem Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit mit der EU und der EFTA (2002) hat die Zuwanderung wieder an Dynamik gewonnen.

Neben Geburtenrate und Zuwanderung ist die Sterblichkeit bzw. die zunehmende Lebenserwartung der dritte wichtige Treiber der Bevölkerungsentwicklung. Dank des medizinischen Fortschritts, der höheren Hygienestandards und des gesünderen Lebensstils weist diese Komponente kein Auf und Ab auf: Wir werden immer älter. Um 1880 hatten Frauen bei der Geburt eine Lebenserwartung von 43 Jahren, Männer wurden knapp 41 Jahre alt. Seither hat sich die Lebenserwartung beständig erhöht: Neuesten Zahlen zufolge hat sie sich von 1880 bis heute auf durchschnittlich 85,7 Jahre für Frauen und 81,6 Jahre für Männer fast verdoppelt.

Auf dem Weg zur 10-Millionen-Schweiz

Die heute in Rente gehenden Babyboomer arbeiten in Schlüsselpositionen in Unternehmen und Verwaltung, Wissenschaft und Kultur. Können diese Stellen neu besetzt werden? Wie Szenarien des Bundesamtes für Statistik (BfS) zeigen, wird die Schweizer Bevölkerung weiter wachsen. Wir sind auf dem Weg zur 10-Millionen-Schweiz. In seinem Referenzszenario geht das BfS davon aus, dass wir noch in diesem Jahrzehnt die 9-Millionen-Schwelle überschreiten werden und in den frühen 2040er-Jahren die 10-Millionen-Schweiz Realität sein dürfte.

Nur leichter Geburtenüberschuss

Gemäss dem BfS-Szenario wird die Geburtenziffer in den nächsten Jahrzehnten von heute 1,50 auf 1,60 im Jahr 2040 leicht steigen. Zwar sind Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes immer älter, dank medizinisch unterstützter Fortpflanzung sind Schwangerschaften aber auch in höherem Alter möglich. Zudem erreicht die Generation, bei der gesundheitsschädigende Verhaltensweisen wie Rauchen oder schlechte Ernährung weit verbreitet waren, nach und nach ein Alter mit hoher Sterblichkeit. Im Referenzszenario des BfS wird bis 2040 von einer Steigerung der Lebenserwartung auf 88,5 Jahre bei Frauen und auf 86 Jahre bei Männern ausgegangen. Werden Geburten und Sterblichkeit miteinander verrechnet, wird die Bevölkerung in der Schweiz in den nächsten Jahrzehnten aufgrund des Geburtenüberschusses jährlich um rund 0.1 bis 0.2 Prozent wachsen.

Zuwanderung als wichtigster Treiber

Bei der Zuwanderung geht das BfS davon aus, dass die ständige Wohnbevölkerung aufgrund des Wanderungssaldos in der nächsten Zeit um rund 0,6 Prozent wachsen wird. Bis 2040 wird sich dieses Wachstum indes auf rund 0,4 Prozent verringern. Die Schweiz bleibt dank ihrer günstigen wirtschaftlichen Situation, der guten Lebensqualität, des hohen Lebensstandards, der zentralen Lage in Europa und der vorteilhaften Steuern als Zuwanderungsland attraktiv.

Die Unternehmen rekrutieren fehlende Arbeitskräfte hauptsächlich aus dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Aber auch im Nicht-EWR werden händeringend qualifizierte Arbeitskräfte gesucht. Aufgrund der erhöhten Mobilität der Erwerbstätigen und der beschleunigten Alterung in Europa konkurrieren die Schweiz und die EWR-Länder zunehmend um qualifizierte Arbeitskräfte. Daher verlangsamt sich die Nettoeinwanderungsdynamik bis 2040 gegenüber den EWR-Staaten.

Verrentungsgipfel 2028

Wir befinden uns gerade in der heissen Phase des demografischen Wandels. Bereits 2016 sind erstmals mehr inländische Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden als nachgerückt. Gemäss Berechnungen der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) müssen in diesem Jahr 14'000 Erwerbspersonen mehr ersetzt werden als noch 2015. Die Verrentungswelle der Babyboomer wird ihren Höhepunkt im Jahr 2028 erreichen. Dann müssen über 20'000 Erwerbspersonen mehr ersetzt werden als 2015.

Gemäss aktuellen politischen Diskussionen um die Erhöhung des Rentenalters und der Erwerbsquote zeichnet sich hier in den nächsten Jahren keine Lösung ab. Der steigende Ersatzbedarf von Arbeitskräften wird vorrangig über die Nettozuwanderung gedeckt werden. Heutige Schlüsselpositionen in Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Kunst werden in Zukunft entsprechend verstärkt von Eingewanderten besetzt werden. So ist klar, dass Exponenten aus Wirtschaft und Wissenschaft heute ungeduldig auf eine politische Lösung bezüglich der Beziehung zwischen der Schweiz und der EU warten.

Sollte sich der Fachkräftemangel noch verschärfen, summieren sich die negativen Auswirkungen und das Potenzialwachstum der Schweiz dürfte geringer ausfallen. Auch für die Finanzmärkte ist die Bevölkerungsentwicklung von zentraler Bedeutung. So beeinflusst der demografische Wandel nicht zuletzt die Sozialversicherungs- und Rentensysteme sowie die Anlagestrategien. Denn je älter die Menschen sind, desto konservativer sind auch ihre Anlagestrategien. Die Schweizer Wirtschaftspolitik hat indes in der Vergangenheit bewiesen, dass sie die Rahmenbedingungen für eine funktionierende Gesellschaft und gedeihliche Wirtschaft richtig zu setzen weiss. Das ist ein Versprechen für die Zukunft.

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