Europa wählt
Anfang Juni stehen die Wahlen für das Europäische Parlament an. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie zu einem klaren Rechtsrutsch führen und die Haltung der EU in Bezug auf ihre Klima- und Migrationspolitik auf die Probe stellen. Die unterschiedlichen politischen Ideologien innerhalb des rechtspopulistischen Lagers und der Machterhalt der gemässigten Koalition sollten allerdings für politische Stabilität sorgen. Erfahren Sie mehr im Beitrag von Sascha Jucker, Senior Economist Europe.
Text: Sascha Jucker
Nach fünf Jahren haben über 400 Millionen Europäerinnen und Europäer Anfang Juni wieder die Möglichkeit, ihre Landesvertreter in das Europäische Parlament (auch: Europaparlament, EU-Parlament) zu wählen.
Innerhalb dieser Legislaturperiode ist in Europa und der restlichen Welt einiges passiert. Die Pandemie und der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine waren aus ökonomischer und politischer Sicht für Europa am bedeutendsten. Aber auch der Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union (EU), der Krieg im Nahen Osten und die verhärteten Fronten zwischen den USA, China und der EU prägen die politischen Debatten auf dem alten Kontinent.
Diese einschneidenden Ereignisse haben die populistischen Tendenzen in der Europapolitik verschärft – insbesondere im rechten Lager.
Viel Lärm um nichts?
Die Europawahlen sind, anders als der Begriff suggeriert, keine landesübergreifenden Wahlen. De facto finden zwischen dem 6. und 9. Juni in den 27 EU-Ländern jeweils voneinander unabhängige Wahlen statt. Die gewählten Kandidaten vertreten als Mitglieder des europäischen Parlaments (MEP) die Interessen ihrer heimischen Wählerinnen und Wähler, wobei sie sich im EU-Parlament landesübergreifend in mehr oder weniger homogenen Fraktionen vereinen.
Die Befugnisse des EU-Parlaments unterscheiden sich wesentlich von denen der meisten nationalen Volksvertretungen, da das Europäische Parlament bei der länderübergreifenden Gesetzgebung nicht federführend ist. Vielmehr werden im EU-Parlament die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Gesetzesänderungen durchgewunken oder abgelehnt. Die EU-Kommission hat ihrerseits die Aufgabe, die von den Staats- und Regierungschefs – dem Europäischen Rat - bestimmten politischen Prioritäten in Gesetzesvorschläge zu verpacken.
Das aktuelle Europaparlament
Obwohl das EU-Parlament keine proaktive Rolle im Gesetzgebungsprozess spielt, kann es durchaus politische Vorstösse der EU-Kommission und des EU-Rates erschweren oder gar blockieren. Dies ist vor allem dann wahrscheinlich, wenn sich die Prioritäten der Landesregierungen – und damit im EU-Rat – nicht mit dem politischen Konsens innerhalb des EU-Parlaments und damit der europäischen Bevölkerung deckt. Bisher war dies selten der Fall, weil eine politisch gemässigte Koalition im EU-Parlament die Mehrheit der Sitze gestellt hat: Seit 2019 regiert die sog. «grosse Koalition» aus den drei grössten Fraktionen. Mit rund einem Viertel der 705 Sitze ist die mitte-rechts ausgerichtete «Europäische Volkspartei» (EVP) die grösste, gefolgt von der mitte-links Fraktion der «Sozialdemokraten» und der liberalen «Renew Europe». Zusammen vereinen sie heute rund 60 Prozent der Sitze im EU-Parlament.
Rechtsrutsch auf nationaler Ebene
Ein Blick auf die neuen politischen Machtverhältnisse in den EU-Ländern lässt allerdings vermuten, dass sich dies bald ändern könnte. Mit Finnland, Italien, der Slowakei, Tschechien und Ungarn sind bereits in fünf EU-Ländern rechtspopulistische Parteien an der Macht. In Deutschland ist die «Alternative für Deutschland» (AfD) gemäss Umfragen mittlerweile die zweitstärkste Partei. In Frankreichs hat Marine LePens «Rassemblement National» die Regierungspartei von Emanuel Macron («Renaissance») in den Umfragen weit hinter sich gelassen, während es Geert Wilders «Partei für die Freiheit» in den Niederlanden kürzlich in die Regierungskoalition geschafft hat. Und auch in Schweden ist die politische Exekutive ohne die Stimmen der Rechtspartei («Sweden Democrats») nicht mehr regierungsfähig. Der in vielen EU-Ländern bereits eingetretene Rechtsrutsch wird sich unweigerlich auch auf europäischer Ebene widerspiegeln.
Wohl keine rechtspopulistische Koalition
Gemäss den aktuellen Umfragen werden die beiden rechten Fraktionen im EU-Parlament – «Identität und Demokratie» sowie die «Europäische Konservative und Reformer» – am meisten Sitze gewinnen. Der Machtgewinn wird gemäss den Prognosen in erster Linie zu Lasten der liberalen und grünen Fraktionen gehen, was angesichts der Trends in verschiedenen nationalen Wahlen nicht überrascht. Die Gretchenfrage ist allerdings, ob der Rechtsrutsch gross genug sein wird, um eine Koalitionsbildung ohne Einbezug der Rechtsaussenparteien zu verunmöglichen.
Trotz der üblichen Unsicherheit bei Wahlumfragen kann hier bereits heute eine gewisse Entwarnung gegeben werden. Die aktuell regierende Koalition wird gemäss den Prognosen zwar an Dominanz verlieren, aber weiterhin 56 Prozent der Sitze unter sich vereinen. Hinzu kommt, dass es gemäss den Umfragen aktuell keine mehrheitsfähige Koalitionsbildung mit den beiden rechtspopulistischen Fraktionen gibt. Zusammen mit der mitte-rechts Partei EVP brächten es die drei Fraktionen nur auf 46 Prozent.
Rechts ist nicht gleich rechts
Die Einflussnahme der rechtspopulistischen Fraktionen auf die Europapolitik wird auch durch ihre Zersplitterung eingeschränkt. Während sich praktisch alle Rechtsaussenparteien für eine restriktivere Migrationspolitik aussprechen, gehen ihre Meinungen bezüglich der Beziehungen der EU zu China, der Osterweiterung der EU oder des Ukraine-Kriegs stark auseinander. Einige zeigen sich äusserst russlandfreundlich. Die Meisten sprechen sich jedoch für eine Fortführung der militärischen, logistischen und finanziellen Unterstützung für die Ukraine aus. Die uneinheitlichen Wertevorstellungen der Rechtspopulisten in den EU-Ländern zeigten sich jüngst auch eindrücklich darin, dass die AfD nach dem Skandal um ihren Politiker Maximilian Krah aus der Fraktion «Identität und Demokratie» ausgeschlossen wurde.
Mitte-rechts als Gewinnerin
Die grösste zusätzliche Einflussnahme auf den legislativen Prozess in Europa dürfte in den nächsten Jahren somit nicht unbedingt von den rechtspopulistischen Kräften ausgehen, sondern vielmehr von der EVP – der mitte-rechts Fraktion in der aktuellen (und wohl zukünftigen) grossen Koalition im EU-Parlament. Dies ist insofern erstaunlich, als dass sie in den anstehenden Wahlen voraussichtlich einige Sitze an das rechtspopulistische Lager verlieren wird. Je nach politischem Dossier hat die grösste Fraktion des EU-Parlaments aber weiterhin die Möglichkeit, sich mit den geschwächten liberalen, grünen und mitte-links Fraktionen zusammenzuschliessen. Oder sie kann sich inskünftig an den erstarkten rechtspopulistischen Kräften orientieren: Eine Option, die sie in der Vergangenheit aufgrund der untergeordneten Rolle der Rechtsaussenpareien kaum in Betracht gezogen hat.
Angesichts der inhaltlichen Überschneidungen der Manifeste der EVP und der rechtspopulistischen Fraktionen ist in den nächsten fünf Jahren mit einer restriktiveren Migrations- und Asylpolitik sowie einem etwas geringeren Stellenwert der Klimapolitik zu rechnen. Die Haltung der EU zu China und Russland dürfte sich derweil kaum ändern. Ein politischer Erdrutsch oder einschneidende Folgen für die gesamteuropäische Wirtschaftspolitik sind deshalb nicht zu erwarten.