Indien: Das nächste China?
Indien umfasst mittlerweile die grösste Bevölkerung der Welt und verfügt damit über die Grundvoraussetzung, China als globalen Produktionsstandort im niedrig qualifizierten Bereich abzulösen. Diverse Hindernisse haben aber bisher die Industrialisierung des südasiatischen Landes verhindert. Um das enorme Potenzial entfalten zu können, sind umfangreiche Reformen notwendig – und zwar bald. Erfahren Sie mehr im Beitrag von Marina Zech, Senior Economist Emerging Markets bei der Zürcher Kantonalbank.
Text: Marina Zech | aktualisiert: 7.9.2023
Dank des beträchtlichen Humankapitals konnte sich China als Werkbank der Welt etablieren und zur zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen. Doch die chinesische Bevölkerung schrumpft bereits. Überdies stiegen während des rasanten Wirtschaftswachstums in den Nullerjahren auch die Löhne an. Infolgedessen hat das Reich der Mitte an Wettbewerbsfähigkeit eingebüsst und ist mittlerweile vor allem im gering qualifizierten Industriebereich harter Konkurrenz ausgesetzt. Im geopolitisch aufgeladenen Umfeld sind global tätige Unternehmen zudem vermehrt bestrebt, Reputationsrisiken zu vermeiden. Entsprechend stark ist in den vergangenen Jahren das Bedürfnis nach einer demokratischen Alternative zu China gewachsen. Als grösste Demokratie der Welt erscheint Indien auf den ersten Blick eine geeignete Option zu sein.
Bevölkerungstechnisch kann das südasiatische Land locker mithalten. Indien umfasst mit 1'417 Millionen mittlerweile sogar mehr Einwohner als China. Zudem profitiert Indien von der sogenannten demografischen Dividende, also einer jungen und wachsenden Bevölkerung. Doch das koloniale und sozialistische Erbe hat seine Spuren hinterlassen. Reformbemühungen haben nach wie vor einen schwierigen Stand. Kann sich Indien unter diesen Voraussetzungen als nächste globale Produktionsstätte etablieren? Es lohnt sich, einen genauen Blick auf das Potenzial Indiens zu werfen.
Tiefe Innovationsfähigkeit
Während der britischen Besatzung von 1858 bis 1947 wurde Indien vom bedeutenden Textilexporteur zum Rohstofflieferanten der Krone degradiert. Die Kolonialherrschaft war wenig an einer konkurrenzfähigen Industrie interessiert, denn Indien sollte nicht die heimische Produktion auf dem Weltmarkt konkurrenzieren. Durch seine Grösse war das Land zudem ein attraktiver Exportmarkt für britische Hersteller, sodass Indien letztlich sogar auf den Import essenzieller Güter angewiesen war. Mangelnde Produktivität und Innovationsfähigkeit wurden bequemerweise durch den Einsatz zusätzlicher Arbeitskräfte ausgeglichen. Die enorme Verfügbarkeit von günstigem Humankapital machte Bemühungen um eine höhere Effizienz überflüssig. So erlitt das Land während der Kolonialzeit sogar einen industriellen Rückschritt.
Fehlendes Industriewissen
Nach der Unabhängigkeit 1947 konnte Indien daher nicht mit den asiatischen Tigerstaaten wie Südkorea und Taiwan mithalten. Diese trumpften nicht nur mit günstigen Arbeitskräften auf, sondern vor allem auch mit industriellem Know-how. Damals wie heute stellen mangelnde Kenntnisse im Industriebereich ein grosses Problem dar. Die Analphabetenrate ist noch immer hoch und Bildungsstätten stossen angesichts des rasanten Bevölkerungswachstums an ihre Grenzen.
Tertiärbildung ist vorwiegend einer ausgewählten Elite vorbehalten, die bevorzugt im exportorientierten Dienstleistungssektor beschäftigt ist. Die englische Sprache hat dazu massgeblich beigetragen. Unternehmen rund um die Welt haben Geschäftsprozesse nach Indien ausgelagert – also Outsourcing im grossen Stil betrieben. Der Erfolg im Tertiärsektor absorbiert allerdings eine Vielzahl an qualifizierten Arbeitskräften, die auch im Industriesektor benötigt werden. Die grosse Lücke zwischen hoch und tief qualifizierten Beschäftigten hält denn auch ausländisches Kapital fern und erschwert den Wissenstransfer aus dem Ausland.
Überbordende Bürokratie
Ein weiteres Hindernis für die Industrialisierung war, dass Indien nach dem Ende der britischen Besatzung das Wirtschaftssystem nach sozialistischen Prinzipien ausrichtete. Grosse Teile der Wirtschaft wurden damals verstaatlicht. Davon war nicht nur die Industrie, sondern auch das Bankensystem betroffen. Erst während der 1980/90er-Jahre wurde die Wirtschaft schrittweise liberalisiert und der marktfreundlichere Reformkurs führte zu höheren Wachstumsraten. Trotzdem blieb ein beträchtlicher Teil in öffentlicher Hand. Unter dem wettbewerbsverzerrenden staatlichen Einfluss leidet die Wirtschaftlichkeit noch heute.
Die Situation wurde sogar verschlimmert, indem paradoxerweise der Unternehmenslandschaft ein komplexes Regelwerk aufgezwungen wurde. Seit Langem wird die ausufernde Bürokratie von Wirtschaftsakteuren scharf kritisiert. Die aktuelle Regierung ist sich der Problematik durchaus bewusst. In den vergangenen Jahren waren jedoch kaum Fortschritte in der Privatisierung staatlicher Betriebe und der Deregulierung der Privatwirtschaft zu verzeichnen.
Stark fragmentierte Unternehmenslandschaft
Unternehmen ächzen aber nicht nur unter der enormen Bürokratie, sondern auch unter dem starken Protektionismus. Hohe Importzölle und komplexe Einfuhrbestimmungen sollten ursprünglich die heimische Industrie schützen. Doch sie verteuern auch den Import von dringend benötigtem Produktionsmaterial, das oftmals noch nicht im Heimmarkt produziert wird. Nicht zuletzt wegen der hohen Komplexität richten insbesondere kleinere Betriebe ihre Produktion nicht auf den Exportmarkt aus. Der Binnenmarkt wäre zwar gross, es fehlt jedoch eine breite, kaufkräftige Mittelschicht. Denn Indien zählt noch immer zu den ärmeren Ländern der Welt. Kleinbetriebe können daher kaum Skaleneffekte ausnutzen und so auch nicht entlang der Wertschöpfungskette emporklettern.
Zudem scheuen sie sich, in die nächsthöhere Beschäftigungskategorie aufzusteigen. Denn grössere Betriebe unterliegen unflexiblen Arbeitsmarktgesetzen, die einen weitgehenden Kündigungsschutz zementieren. Anreize für Unternehmenswachstum sind somit nicht vorhanden. Als Folge davon gestaltet sich die Unternehmenslandschaft stark fragmentiert und der Anteil des informellen Sektors ist im internationalen Vergleich beträchtlich.
Mangelhafte Infrastruktur
Als problematisch gilt weiter die marode Infrastruktur. Die britische Besatzung hinterliess zwar einen funktionierenden Regierungsapparat und ein unabhängiges Justizsystem. Harte Infrastrukturen wie Verkehrswege und Stromnetze sind allerdings überlastet. Ihr Ausbau ist daher Grundvoraussetzung, um die industrielle Entwicklung voranzutreiben. Während ausländische Investoren vor den hohen bürokratischen Hürden zurückschrecken, hat die Regierung kürzlich die finanziellen Mittel zur Verbesserung der Infrastruktur aufgestockt.
Rares Land
Darüber hinaus sind Landflächen für industrielle Zwecke knapp. Gängige Landrechte sehen seit den 1960er-Jahren Eigentumsobergrenzen für Privatpersonen und Unternehmen vor und unklare Besitzverhältnisse erschweren die Ansiedlung neuer Produktionsstätten. Zudem erweist sich die Umnutzung von Agrarland als politisch heikel. Da fast die Hälfe der indischen Bevölkerung im Landwirt-schaftssektor tätig ist, will die Regierung keinesfalls grössere Teile der Wählerschaft verprellen. Dieses Risiko ist nicht zu vernachlässigen, wie gescheiterte Reformvorhaben im Agrarsektor in der Vergangenheit bereits gezeigt haben.
Dominante Landwirtschaft
Ganz grundsätzlich ist die Dominanz des Landwirtschafts-sektors augenfällig. Unter Berücksichtigung des Entwicklungsgrades ist der Agrarsektor mit 17 Prozent der Bruttowertschöpfung überdurchschnittlich gross. Gleichzeitig sind jedoch mehr als 40 Prozent der Bevölkerung im Primärsektor tätig, womit sich hohe Ineffizienzen in der Wertschöpfung offenbaren. Der Landwirtschaftssektor bindet also unnötig viele Ressourcen. Während andere Länder im Laufe ihres wirtschaftlichen Aufstiegs den Strukturwandel üblicherweise vom Landwirtschafts- zum Industrie- und schliesslich zum Dienstleistungssektor durchlaufen, hat Indien die sekundäre Stufe quasi ausgelassen. Der Anteil der indischen Industrie an der Bruttowertschöpfung ist entsprechend tief.
Die Uhr tickt
Die grosse und junge Bevölkerung stellt Indiens grösstes Potenzial dar und ermöglicht eigentlich den Aufbau einer arbeitsintensiven Industrie mit globalem Format. Doch die geringe Innovationsfähigkeit, fehlendes Know-how und ausländisches Kapital sowie Protektionismus, Bürokratie, rigorose Boden- und unflexible Arbeitsgesetze verhinderten bisher die Industrialisierung des südasiatischen Landes. Um diesem Teufelskreis zu entfliehen und sich als globale Produktionsstätte etablieren zu können, muss die Regierung dringend notwendige Reformen verabschieden. Die hohe Beschäftigung im Agrarsektor stellt sie aber vor ein wahlpolitisches Dilemma, weshalb sich wichtige Reformbeschlüsse hinziehen dürften. Indien muss sich aber nicht nur im Wettbewerb mit anderen aufstrebenden Volkswirtschaften, sondern zunehmend auch gegen die Automatisierung behaupten. Infolge des rasanten Bevölkerungswachstums drängen allerdings jährlich mehrere Millionen neue Beschäftigte auf den indischen Arbeitsmarkt. Um diese absorbieren zu können, ist der Aufbau einer arbeitsintensiven Industrie zwingend notwendig. Die Zeit drängt also.