Neuer Anlauf bei der AHV
Ein finanzielles Gleichgewicht – zumindest für die nächsten Jahre: Dieses Ziel hat die Reform AHV 21, über die am 25. September 2022 abgestimmt wird. Wir ordnen die jüngste Anpassung innerhalb der fast hundertjährigen Geschichte des Sozialwerks ein und zeigen die grössten Knackpunkte auf.
Text: Patrick Steinemann | aus dem Magazin «Meine Vorsorge» 2/2022
125 Franken pro Monat: Das war die Obergrenze der ersten Alters- und Hinterlassenenrenten in der Schweiz. Seit ihrer Einführung im Jahr 1948 hat sich die AHV stark gewandelt und erweitert. Aus dem einst als notwendige Existenzsicherung im Alter und in der Not gedachten Sozialwerk ist ein umfassendes System geworden. Das Rentenmaximum liegt heute bei 2'390 Franken pro Monat. Und neben der ersten Säule der Altersvorsorge – eben der AHV – wurden die berufliche und die private Vorsorge als zweite und dritte Säulen etabliert.
Die AHV ist aber nicht nur ein wegweisendes Modell der sozialen Absicherung – sie ist seit ihrer Gründung auch Gegenstand zahlreicher politischer Diskussionen und Änderungswünsche: So brauchte es allein 23 Jahre und zwei Volksabstimmungen vom Verfassungsartikel bis zur ersten Gesetzesgrundlage. Und bei den seitdem angestrengten AHV-Revisionen ist das erste Dutzend mittlerweile voll, wie die untenstehende Chronologie zeigt (Quelle: Bundesamt für Sozialversicherungen BSV).
Chronologie der Schritte und Reformen bei der Altersvorsorge in der Schweiz (Auswahl)
Chronologie der Schritte und Reformen bei der Altersvorsorge in der Schweiz (Auswahl)
1925 | Basis für die AHV | Annahme Verfassungsartikel für eine obligatorische Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung |
1948 | Einführung der AHV |
Inkrafttreten Bundesgesetz |
1951-1969 | 1. bis 7. AHV-Revision | U.a. Rentenerhöhungen, Beitragssatzerhöhung, Herabsetzung des Frauenrentenalters von 65 auf 63 Jahre und von 63 auf 62 Jahre |
1972 | 3-Säulen-System | Verankerung des Konzepts von AHV, beruflicher Vorsorge und privater Vorsorge in der Bundesverfassung |
1973-1980 | 8. und 9. AHV-Revision | U.a. Rentenerhöhungen, Beitragssatzerhöhung |
1985 | Einführung Obligatorium der beruflichen Vorsorge (BVG) | Inkrafttreten Bundesgesetz |
1987 | Einführung gebundene Selbstvorsorge (Säule 3a) | Verordnung |
1995 | Einführung Freizügigkeit und Wohneigentumsförderung | Bundesgesetz; Verordnung |
1997 | 10. AHV-Revision | U.a. Einführung Einzelrente, Möglichkeit zum Rentenvorbezug, schrittweise Erhöhung des Frauenrentenalters von 62 auf 64 Jahre, Witwerrente |
2004-2012 | Reformen des BVGs | U.a. Senkung des Umwandlungssatzes; Anpassung Einkaufsmöglichkeiten |
2020 | Steuerreform und AHV-Finanzierung (STAF) | Erhöhung von Beitragssatz und Bundesbeitrag, gesamtes MWST-Demografieprozent für AHV |
Gescheiterte oder vom Volk abgelehnte Revisionsversuche
Gescheiterte oder vom Volk abgelehnte Revisionsversuche
2004 | 11. AHV-Revision | U.a. Anhebung des Frauenrentenalters auf 65, Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV |
2010 | Änderung BVG | Senkung Umwandlungssatz |
2010 | 11. AHV-Revision (bis) | U.a. Anhebung des Frauenrentenalters auf 65, Flexibilisierung des Altersrücktritts (Revision im Parlament gescheitert) |
2017 | Altersvorsorge 2020 (AHV und BVG) | U.a. Anhebung des Frauenrentenalters auf 65, Flexibilisierung des Altersrücktritts in beiden Versicherungen, Zusatzfinanzierung für die AHV über die Anhebung der Mehrwertsteuer |
Verhärtete politische Fronten
Die politischen Fronten waren über all die Jahre verhärtet und haben sich bis jetzt nicht wesentlich aufgeweicht. Trotzdem hat das Parlament 2021 die bislang letzte Reform mit relativ deutlicher Mehrheit verabschiedet: die AHV 21. Die vorgesehene Anpassung hat den gleichen Auslöser wie schon frühere Reformvorschläge: Die Menschen in der Schweiz werden immer älter, der Rentenbezug dauert dadurch immer länger an – und das Loch in der AHV-Kasse wird somit immer grösser. Auch bei der vorgesehenen Problemlösung orientiert sich die AHV 21 am schon früher praktizierten Standardmodell: Weniger Ausgaben (durch die Erhöhung des Rentenalters der Frauen) und mehr Einnahmen (durch zusätzliche Gelder aus der Mehrwertsteuer).
Ist das bloss eine halbherzige Lösung für ein Dauerproblem? «Der grosse Wurf ist die AHV 21 sicher nicht», sagt Philipp Roth, Finanzplaner bei der Zürcher Kantonalbank. Die aktuelle Reform sei eine Zwischenetappe, nicht mehr. Denn: «Mit der AHV 21 sind die Finanzen des Sozialwerks nur bis 2030 gesichert. Die nächste Reform muss also schon bald kommen.» Der Hintergrund: Gemäss Berechnungen des Bundes (Stand: Frühjahr 2022) ist bei der AHV schon ab 2027 wieder mit einem negativen Umlageresultat zu rechnen. Konkret: Sie gibt mehr aus, als sie einnimmt. Befeuert werden die Finanzierungsprobleme durch die geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1945 und 1965: Die Babyboomer kommen aktuell ins Pensionsalter – und deren Renten müssen von immer weniger Erwerbstätigen finanziert werden.
Kleinster gemeinsamer Nenner
Warum tut sich die Politik so schwer mit der AHV, einem System, das in den Grundzügen eigentlich niemand infrage stellt? Philipp Roth ordnet ein: «Das Thema ist sehr emotional, weil alle betroffen sind – zuerst als Beitragszahler, später als Rentenbezüger. Zudem gibt es bei der Finanzierung der AHV zwar zahlreiche Ideen, die meisten sind aber nicht mehrheitsfähig. Das zeigt sich auch darin, dass in den letzten 25 Jahren kaum etwas geändert wurde in der ersten Säule.»
Und so resultiere aus der politischen Diskussion eben meist der kleinste gemeinsame Nenner. Bei der AHV 21 ist dies die Finanzierung über zusätzliche Prozentpunkte bei der Mehrwertsteuer. Dazu kommen weitere kleine Massnahmen wie Anpassungen beim flexiblen Rentenbezug oder zusätzliche Anreize, wie etwa jener, die Arbeit über das Pensionsalter hinaus weiterzuführen (siehe nachfolgende Tabelle mit dem Vergleich der Neuerungen von AHV 21 mit den aktuellen Regeln; Quelle: BSV).
AHV 21 – was ändert sich?
Rentenalter (bzw. Referenzalter)
Rentenalter (bzw. Referenzalter)
Heute | AHV 21 | Ausblick 2030 |
---|---|---|
Rentenalter für Frauen: 64 Jahre Rentenalter für Männer: 65 Jahre |
Begriffsänderung: Referenzalter statt ordentliches Rentenalter Einheitliches Referenzalter für Frauen und Männer bei AHV und beruflicher Vorsorge: 65 Jahre Erhöhung des Referenzalters der Frauen von 64 auf 65 Jahre beginnt ein Jahr nach Inkrafttreten der Reform und erfolgt schrittweise um drei Monate pro Jahr (bei Inkrafttreten 2024 gilt das einheitliche Referenzalter von 65 Jahren ab 2028) |
Einsparungen durch höheres Referenzalter für Frauen (ca. CHF 1'227 Mio.) Mehreinnahmen durch Verlängerung der Beitragspflicht (ca. CHF 194 Mio.) |
Ausgleichsmassnahmen für Frauen der Übergangsgeneration
Ausgleichsmassnahmen für Frauen der Übergangsgeneration
Heute | AHV 21 | Ausblick 2030 |
---|---|---|
Lebenslanger AHV-Zuschlag für die Frauen der Übergangsgeneration, die ihre Altersrente nicht vorbeziehen (Bei Inkrafttreten 2024: Jahrgänge 1961 bis 1969 gehören zur Übergangsgeneration) | Mehrausgaben (ca. CHF 365 Mio.) Weniger Einnahmen (ca. CHF 100 Mio.) |
Flexibler Rentenbezug
Flexibler Rentenbezug
Heute | AHV 21 | Ausblick 2030 |
---|---|---|
Männer und Frauen können ihre Rente um maximal zwei Jahre vorbeziehen (mit Rentenkürzung) Es können lediglich ganze Jahre vorbezogen werden Rente kann um maximal fünf Jahre aufgeschoben werden (mit Anspruch auf Zuschlag) |
Möglichkeit des Rentenbezugs zwischen 63 und 70 Jahren für Frauen und Männer Einführung des Teilrentenvorbezugs und des Teilrentenaufschubs Kürzungen bei Vorbezug und Zuschläge bei Aufschub an die durchschnittliche Lebenserwartung angepasst und entsprechend gesenkt |
Mehrausgaben durch tiefere Kürzung bei Vorbezug (ca. CHF 65 Mio.) Einsparungen durch Reduktion des Zuschlags bei Aufschub (ca. CHF 1 Mio.) |
Anreize zur Weiterführung der Erwerbstätigkeit nach 65
Anreize zur Weiterführung der Erwerbstätigkeit nach 65
Heute | AHV 21 | Ausblick 2030 |
---|---|---|
Freibetrag von CHF 1'400.- / Monat resp. CHF 16'800.- / Jahr Bezahlte Beiträge ab 65 Jahren führen nicht zu höherer Altersrente |
Möglicher Verzicht auf Freibetrag für Erwerbstätige im Rentenalter Berücksichtigung der nach dem Referenzalter 65 bezahlten Beiträge (mögliche Schliessung von Beitragslücken, Verbesserung der Rente (bis Maximum) |
Mögliche Mehreinnahmen infolge Verzichts auf Freibetrag (ca. CHF 99 Mio.) Mehrausgaben durch Rentenwirksamkeit von Beiträgen nach Referenzalter (ca. CHF 50 Mio.) |
Zusatzfinanzierung durch Erhöhung Mehrwertsteuer (MWST)
Zusatzfinanzierung durch Erhöhung Mehrwertsteuer (MWST)
Heute | AHV 21 | Ausblick 2030 |
---|---|---|
Normalsatz MWST: 7,7% Davon für AHV zum demografischen Ausgleich: 1% |
Erhöhung der MWST um 0,4% für die AHV (neuer Normalsatz: 8,1%) | Mehreinnahmen (ca. CHF 1'369 Mio.) |
Doch beim eigentlichen Hauptelement der AHV 21 – der Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 Jahre – tun sich die alten Gräben wieder auf: Gewerkschaften und linke politische Kreise wehren sich vehement dagegen und haben das Referendum ergriffen – die Volksabstimmung findet am 25. September 2022 statt. Ein Blick zurück zeigt, dass das Frauenrentenalter schon immer umkämpft gewesen ist: Bis 1964 wurde es schrittweise von 65 auf 62 Jahre gesenkt, ab 1997 wieder auf 64 Jahre erhöht.
Wäre die Angleichung des Rentenalters von Männern und Frauen mit der AHV 21 tatsächlich dermassen spürbar im Portemonnaie? «Je nach Abhängigkeit von der AHV ist die Auswirkung grösser oder kleiner», sagt Philipp Roth. «In vielen Fällen würde die Reform wohl nicht zu einschneidenden Leistungsänderungen führen. Zudem sind Ausgleichsmassnahmen bei der Übergangsgeneration vorgesehen.» Spürbar für alle sei auf jeden Fall die Finanzierungsseite, wenn mehr (Steuer-)Geld für die AHV aufgewendet werden müsse.
Reformen müssen weitergehen
Noch ist offen, ob die AHV 21 beim Volk Zustimmung finden wird. Erhält sie eine Mehrheit, ist ein Inkrafttreten wohl frühestens Anfang 2024 realistisch. So oder so werden sich die Reformen bei der AHV fortsetzen – wenngleich die Vorstellungen ziemlich unterschiedlich sind, wie zwei aktuelle Volksinitiativen zeigen: Die eine fordert 13 AHV-Renten pro Jahr, die andere will das Rentenalter für Frauen und Männer auf 66 Jahre erhöhen.
Aber auch das Parlament ist weiter mit dem Thema beschäftigt. Etwa mit einer Motion des Zürcher FDP-Nationalrats Andri Silberschmidt, die – analog zur Klimapolitik – auch bei der AHV ein «Netto-Null-Ziel» anpeilen will: Einnahmen und Ausgaben sollen bis 2050 ohne Berücksichtigung der Kapitalerträge im Gleichgewicht sein. Aus der Antwort des Bundesrates geht hervor, dass dies wohl nur mit einem Rentenalter 68 für Frauen und Männer möglich sein würde. Daneben ist auch bei der zweiten Säule, der beruflichen Vorsorge, aktuell eine Reform im Gange: Nebst der Senkung des Umwandlungssatzes soll sie unter anderem Teilzeitbeschäftigten einen besseren Versicherungsschutz und damit bessere Leistungen bringen.
Welches Fazit zieht Philipp Roth aus den zahlreichen politischen Aktivitäten und Diskussionen rund um die AHV und die anderen Sozialwerke? «Die teilweise gegenläufigen politischen Vorstösse und die schwierig vorherzusagenden Volksentscheide machen eine Prognose zur Zukunft der AHV sehr schwierig. Klar sind für mich aber zwei Dinge: Die Herausforderungen bei der ersten Säule werden nicht kleiner. Und so wird die individuell besser beeinflussbare Vorsorge in der zweiten und dritten Säule immer wichtiger, um den Lebensstandard im Alter halten zu können.»
Was können Sie selbst tun?
Drei Tipps zur Altersvorsorge
Drei Tipps zur Altersvorsorge
Oft fehlt ein Gesamtüberblick über die eigene Vorsorge. Schaffen Sie deshalb Transparenz in Ihrer persönlichen Vorsorgeplanung. Prüfen Sie, welche zusätzlichen Anstrengungen nötig sind, damit Sie auch nach der Pensionierung Ihren Lebensstandard halten und Ihre persönlichen Wünsche erfüllen können.
Vermeiden Sie Beitragslücken und drohende Rentenkürzungen bei der AHV: Bestellen Sie bei der zuständigen Ausgleichskasse einen individuellen Kontoauszug, um die abgerechneten Jahreseinkommen zu kontrollieren und allenfalls fehlerhafte Einträge zu korrigieren. Ab Alter 50 empfehlen wir Ihnen, eine persönliche Rentenvorausberechnung einzuholen.
Weil die Herausforderungen bei der 1. Säule (AHV) in den nächsten Jahren nicht kleiner werden, gewinnen die 2. Säule (berufliche Vorsorge) und die 3. Säule (private Vorsorge) an Bedeutung. Hier lohnt es sich, Möglichkeiten wie den Einkauf in die Pensionskasse oder die Eröffnung bzw. Bewirtschaftung von Säule-3a-Kontos zu prüfen.