«Wir müssen das Risiko des Vertrauens eingehen»

Urvertrauen, Gewohnheitsvertrauen oder Vertrauenserwartungen: Die Zürcher Psychologin Brigitte Boothe kennt alle Nuancen zwischen unbedingtem Wohlwollen und konflikthaftem Misstrauen.

Interview: Patrick Steinemann / Bilder: Simon Habegger | aus dem Magazin «ZH» 1/2021

Wir leben in einer ausserordentlichen Pandemiezeit und haben Mühe einzuordnen, was war, was ist, was noch kommt. Unser Weltvertrauen hat Risse bekommen.

Situationen mit viel Ungewissheit sind für unser Vertrauen sicher nicht förderlich. Denn in der Regel vertrauen wir umso mehr, je mehr wir wissen. Und doch sollen wir momentan Vertrauen haben in alle möglichen wissenschaftlichen Daten und staatlichen Akteure …

Psychologin Brigitte Boothe
Brigitte Boothe: «Wenn ich jemandem vertraue, möchte ich, dass sich mein Gegenüber für mich einsetzt.»

... stattdessen wächst bei vielen Menschen das Misstrauen.

Vertrauen ist immer personengebunden. Und wo Menschen handeln, sind meist auch Interessen im Spiel. Da diese Interessen – etwa in der Politik – nicht immer auf das Wohl der gesamten Bevölkerung ausgerichtet sind, stellt sich bei vielen eben Misstrauen ein.

Beim Vertrauen geht es immer um das Wohl des anderen?

Wenn ich jemandem vertraue, möchte ich, dass sich mein Gegenüber für mich und meine Anliegen einsetzt. Jemandem vertrauen heisst: Setze dich bitte für mich ein, denn ich bin auf dich angewiesen und brauche von dir Unterstützung und Beistand.

Und das Gegenüber muss diese Vertrauenserwartung dann erfüllen. Das ist nicht immer konfliktfrei.

Ja. Denn der andere muss prüfen, ob er bereit ist, den Vertrauensantrag oder -auftrag auch anzunehmen – und ob er die Kompetenzen dafür hat. Mein Anliegen könnte auch zu viel sein für ihn, ihn überfordern. Bildlich gesprochen: Sie sollten nicht dem Dackel vertrauen, dass er auf die Knackwürste aufpasst.

Welches Vertrauen wir später wem schenken, hängt auch vom Urvertrauen ab, das wir am Anfang unseres Lebens entwickelt haben.

Der Mensch braucht zu Beginn seines Lebens – und auch später immer wieder – Vertrauensagenten. Kleinkinder brauchen die Resonanz ihrer Eltern oder anderer Vertrauenspersonen. Durch Feinfühligkeit, Empathie und andere Kompetenzen können diese ein Kind ermutigen oder beruhigen. Durch diese Erfahrungen lernt das Kind, dass die nähere und weitere Umgebung es gut meint mit ihm, und es bildet sich so etwas wie ein Weltvertrauen.

Welche Bedeutung hat hier der Aspekt der Nähe?

Zu Beginn des Lebens ist Nähe sicher eine unbedingte, unverzichtbare Voraussetzung für Vertrauen, etwa durch die Stimme von Mutter oder Vater oder deren haltende Hände. Dieses Gehaltensein ist ja auch in der Religion das Urbild des Vertrauens.

Und später im Leben?

Vertrauen kann auch über andere, distanziertere Kontaktformen ausgehandelt werden, etwa auf dem schriftlichen Weg. Gerade in der aktuellen Situation sind wir oft gezwungen, private und berufliche Kontakte über technische Hilfsmittel und Kanäle zu pflegen. Das fällt aber vielen Menschen schwer. Sie wissen nicht mehr, ob die Beziehungen noch stimmen, ob die Leute ehrlich und vertrauenswürdig sind.

Es scheint, als wäre bei jungen Menschen Vertrauen spontaner und stärker vorhanden. Werden wir im Laufe unseres Lebens schleichend desillusioniert auf Kosten unseres Vertrauensvorrats?

Die Herstellung von Vertrauen gelingt nicht immer. Das heisst jedoch nicht, dass unser Vertrauen per se immer weniger wird. Wir Menschen müssen lernen, wem wir aus welchen Gründen vertrauen können – oder auch nicht. Für mich ist das keine Desillusionierung, sondern ein Lernprozess, bei dem wir uns Kompetenzen aneignen und an Expertise gewinnen.

Psychologin Brigitte Boothe
Brigitte Boothe: «Sich selbst zu vertrauen bedeutet, sich selbst Kredit zu geben.»

Dass wir mit diesen Kompetenzen über unser familiäres Umfeld hinaus Vertrauen aufbauen können, ist also so etwas wie das Fundament unserer Zivilisation?

Vertrauen spielte für den Menschen immer schon eine grosse Rolle. Früher war die Religion die Instanz des Vertrauens. Sie vermittelte den Menschen das Gefühl, dass es immer etwas Höheres gibt, dem sie vertrauen können, auch wenn die irdische Welt ihnen nicht wohlgesinnt war. Mit der Aufklärung änderte sich dies, nun war unsere eigene Urteilskraft und Kritikfähigkeit viel mehr gefragt.

Vertrauen wurde zum Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, sprich: zum Selbstvertrauen?

Zunächst bedeutete es ein Mehr an Selbstverantwortung, denn die Menschen mussten ihr Handeln von da an vor sich selbst rechtfertigen. Aber ja: Das Vertrauen in andere Instanzen wird dort zurückgedrängt, wo es mich hindert, mein eigenes Urteil zu entwickeln.

Selbstvertrauen ist ein fragiles Gut …

Sich selbst zu vertrauen bedeutet, sich selbst Kredit zu geben. Aber es ist auch eine Beziehungssache: Wenn ich mir etwas zutraue, braucht es auch Instanzen, die dieses Zutrauen teilen und insofern in mich investieren. Das ist ein fortlaufender Prozess, bei dem immer geschaut wird, ob das Zutrauen noch berechtigt ist oder nicht. Selbstvertrauen heisst auch, sich etwas zuzumuten. Und es beinhaltet das Risiko, zu scheitern.

Wie für das Weltvertrauen sind unsichere Zeiten auch für das Selbstvertrauen nicht gerade förderlich.

Sicher, sie können mich hemmen und blockieren, sodass ich etwas gar nicht erst beginne. Selbstzweifel können mich aber auch weiterbringen. Ich habe immer die Chance, mich zu korrigieren. Unsicherheit kann durchaus produktiv sein.

Gilt das auch im gesellschaftlichen Rahmen?

Durchaus. Ich sehe hier viel soziales Bewusstsein. Wir erfahren immer mehr über Missstände, stellen bestehende Systeme und angebliche Gewissheiten infrage. Viele Menschen setzen sich aber gerade auch in unsicheren Zeiten mit vielen Initiativen für Wertschätzung, Achtung oder Nachhaltigkeit ein. Empathie beglückt die Menschen, sie stärkt ihr Selbstwertgefühl. Ich glaube, es ist ein Grundvertrauen vorhanden, sich an der Schaffung von gutem Leben zu beteiligen.

Auf der persönlichen Ebene ist das aber nicht immer so: Wir klinken uns in Beziehungen ein und bei Bedarf zügig auch wieder aus …

Es gibt heute sicher auch viele Wegwerfbeziehungen, in denen Menschen nur benutzt werden oder die Selbstverwirklichung im Vordergrund steht. Der Ausweg wäre auch hier mehr Nachhaltigkeit: Die Menschen sollten sich wieder bewusst machen, was es heisst, in ein Vertrauensverhältnis zu gelangen mit anderen. Es geht um gegenseitige Wertschätzung und um Loyalität. Es geht darum, sich auf die Anliegen des anderen einzulassen und sich ihm gegenüber als vertrauenswürdig zu erweisen.

Wie gelingt das im Alltag, wenn wir spontan und ohne vertiefte Kenntnisse Personen und ihrem Handeln vertrauen sollen oder sogar müssen?

Das ist Teil unserer Intuition. Wir taxieren in kürzester Zeit die Selbstdarstellung unseres Gegenübers. Wir beurteilen etwa, wie jemand schaut, und stufen sie oder ihn dann als vertrauenswürdig ein oder nicht. Dieser erste Eindruck ist oft sehr stark, und es kann später schwierig sein, ihn zu korrigieren.

Was tun?

Das Wohlwollen des Gegenübers kann aktiv eingeholt werden, indem man sich bescheiden gibt oder im Gespräch gekonnt auf eigene Schwächen hinweist. So wird signalisiert, nicht über Allmacht zu verfügen.

Vertraut manch einer einem anderen Menschen nicht genau wegen dessen scheinbarer Allmacht?

Das Charisma von gewissen Menschen spielt hier sicher eine entscheidende Rolle. Gewisse Akteure – zum Beispiel in der Politik – schaffen es besser als andere, ihrem Publikum das Gefühl zu geben, dass es um ihr Wohl geht. Viele Menschen sind auch einfach nur froh, wenn jemand stark ist und die Dinge richtet.

Hat Vertrauen dann mit Stärke zu tun?

In gewissen Situationen schon. Zum Beispiel, wenn ich ein Firmenpatron bin und der nächsten Generation das Unternehmen anvertraue. Dann versuche ich vielleicht, auch einen Teil meiner persönlichen Stärke weiterzugeben. Ausgeübte Stärke kann aber auch sehr kontraproduktiv sein, etwa wenn ich nach der Geschäftsübergabe immer noch reinrede. Hier kann viel Vertrauen kaputtgehen.

Vertrauen geht in gewissen Momenten auch damit einher, Schwäche zu zeigen, oder?

Ja. Wenn wir uns einer Vertrauensperson gegenüber öffnen, heisst das oft, dass wir auch über unsere Schwächen sprechen. In solchen Momenten sind wir auch besonders verletzlich, wenn das gewährte Vertrauen missbraucht wird.

Und trotzdem sollen wir das Risiko des Vertrauens eingehen?

Unbedingt. Wenn ich anderen nicht vertrauen kann, bin ich rasch sehr einsam. Wir Menschen möchten vertrauen, weil wir das Wohlwollen der anderen möchten. Wir müssen aber auch vertrauen, weil unserer Autonomie Grenzen gesetzt sind. Sinnbildlich wird dies bei der Hilflosigkeit von älteren Menschen, die auf die Hilfe und Pflege anderer vertrauen müssen.

In vielen wirtschaftlichen Situationen sind wir auf ein rasches, fast blindes Vertrauen angewiesen, etwa wenn wir uns darauf verlassen, dass ein im Supermarkt gekauftes Lebensmittel nicht gesundheitsschädigend ist.

Hier geht es um so etwas wie Gewohnheitsvertrauen. Wir wenden das Prinzip des Wohlwollens auf unsere Umgebung an und gehen davon aus, dass sich die Gefahren in Grenzen halten, weil ja bislang auch meist alles gut gegangen ist. Erst ein allfälliger Skandal wühlt uns auf.

Im Konsumbereich sehen wir Vertrauen also oft einfach als gegeben an. Anders bei gewichtigeren Geschäftsabschlüssen: Wo früher ein Handschlag reichte, regeln heute Verträge alles ganz genau. Ein Zeichen schwindenden Vertrauens?

Eher ein Hinweis darauf, dass viele Geschäfte immer komplexer werden und wir nicht mehr auf Anhieb alle möglichen Implikationen überblicken. Der Handschlag symbolisierte ein allgemeines, wechselseitiges Fair Play. Der Vertrag hingegen schafft eine Sicherheit, die auf Kontrolle und nicht auf Vertrauen basiert.

Von den heutigen Arbeitnehmenden wird gefordert, flexibel und innovativ zu sein. Sind dafür nicht grössere Handlungsspielräume und mehr Vertrauen erforderlich statt Kontrolle?

Die Unternehmen geben ihren Angestellten in der Regel einen Vertrauensvorschuss. Er muss sich aber auch als angemessen erweisen. Ich erwähne hier nochmals das Prinzip des Kreditgebens. Damit verbunden ist immer auch die Frage, ob sich eine Investition in eine Person und ihre Ideen auch lohnt. Natürlich gibt es bei den meisten Projekten Ermessensspielräume, die nach Möglichkeit auch genutzt werden. Irgendeine Form von Kontrolle gehört aber eben meistens auch dazu.

Beim Marketing investieren viele Unternehmen oft immense Summen, um das Vertrauen ihrer Kunden zu gewinnen. Zahlt sich das aus?

Die Vertrauensrhetorik wird tatsächlich intensiv genutzt – und oft auch überstrapaziert. Es ist nachvollziehbar, dass heute jede Firma mit ihrem Produkt als vertrauenswürdig eingestuft werden will. Überall wird ständig von Vertrauen gesprochen, und ich soll als Konsumentin glauben, dass es doch nur um mich geht. Das ist aber meist ein Schein und manchmal auch schlicht eine missbräuchliche Rhetorik. Wenn mir durch wen oder was auch immer aufoktroyiert wird: «Vertraue mir!», dann entgegne ich: «Vertrauen kann man nicht befehlen.»

Vertrauen scheint auch in der Technik der einzig brauchbare Mechanismus zur Reduktion von Komplexität zu sein: Wenn ich die Funktionsweise eines Apparats oder Algorithmus nicht verstehe, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen.

Schenken Sie diesen Dingen tatsächlich Vertrauen? Technikenthusiasten mögen das tun. Ich habe da einen eher eng gefassten Vertrauensbegriff. Natürlich bin auch ich gehalten, diese Dinge in meinen Alltag zu integrieren, und auch ich muss gewisse Kompetenzen erwerben, um mit ihnen umgehen zu können. Aber ihnen vertrauen? Für mich ist und bleibt ein Basiselement des Vertrauens, dass etwas zu meinem Wohl geschieht. Von einem technischen Gerät kann ich aber doch nicht ernsthaft erwarten, dass es mein persönliches Wohl im Blick hat.

Zur Person

Prof. Dr. phil. Brigitte Boothe ist zertifizierte Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin (FSP). Bis zu ihrer Emeritierung besetzte sie den Lehrstuhl für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Brigitte Boothe hat Philosophie, Germanistik und Romanistik studiert. Sie hat zu zahlreichen Themen publiziert, darunter auch zur Vertrauens- und Kooperationsbildung sowie zur Kreditierung. 

Kategorien

ZH