«America first» – auch ohne Trump
Einige europäische Industrieunternehmen im Bereich erneuerbarer Energien denken laut darüber nach, ihren Standort in die USA zu verlegen. Kann Europa dies verhindern? Lesen Sie die Einschätzung dazu im Beitrag von Silke Humbert, Nachhaltigkeitsökonomin.
Text: Silke Humbert
Ein von der kalifornischen Sonne gebräunter Mann mit Sonnenbrille überholt in seinem Tesla die anderen Autos und winkt den Leuten im Rückspiegel dabei freundlich zu. So oder so ähnlich sieht der Alptraum europäischer Politiker heute aus. Die Liste der europäischen Industrieunternehmen im Bereich erneuerbarer Energien, die laut darüber nachdenken, ihren Standort in die USA zu verlegen, wird immer länger. Auch eine eigens eingerichtete transatlantische Arbeitsgruppe konnte die Amerikaner nicht dazu bewegen, Europa in ihre Subventionspolitik für umweltfreundliche Energien mit aufzunehmen.
Um die grossen Veränderungen deutlich zu machen, die mit der Erfüllung der Pariser Klimaziele einhergehen, kann zwischen dem Zeitalter der fossilen Energien und Netto-Null unterschieden werden. Im Zeitalter der fossilen Energien haben die USA eine energiepolitisch äusserst komfortable Situation: Durch ihre hohen Reserven an fossilen Energieträgern konsumieren sie nicht mehr Energie, als sie selbst produzieren, und sind somit praktisch energieunabhängig.
Im Netto-Null-Zeitalter ergibt sich für die USA ein komplett anderes Bild
Die Grafik unten zeigt die lokalen Produktionskapazitäten umweltfreundlicher Energien weltweit. Im Bereich Photovoltaik entfallen knapp 90 Prozent der globalen Produktionskapazitäten auf China. Die USA und Europa stellen hingegen bloss 2 Prozent. Auch bei Lithium-Ionen-Batterien ist China mit einem Anteil von knapp 80 Prozent der weltweiten Produktionskapazitäten klar führend, die USA und Europa steuern lediglich 3 Prozent bzw. 4 Prozent bei. Bei Wind (10 Prozent) und Wasserstoff (8 Prozent) sind die Produktionskapazitäten der USA zwar leicht höher, aber eines ist klar: Von einer Energieunabhängigkeit im Netto-Null-Zeitalter sind die USA meilenweit entfernt.
Produktionskapazitäten umweltfreundlicher Energien 2022
Die USA kämpfen mit allen Mitteln
Nun geben die USA kräftig Gegensteuer. Und zwar mit einer protektionistischen Wirtschaftspolitik, die wenig Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Partner jenseits des Atlantiks nimmt. Vorrangige Ziele der letzten Gesetzesvorhaben wie des Inflation Reduction Act sind der Aufbau von lokalen Produktionskapazitäten und die Unabhängigkeit bei der Beschaffung kritischer Güter. Um diese Ziele zu erreichen, ist die Gewährung von Steuergutschriften oft an Bedingungen gekoppelt. Voraussetzungen sind beispielsweise die lokale Produktion oder die Materialbeschaffung im Inland oder zumindest von einem Freihandelspartner. Dies soll die heimische Wirtschaft ankurbeln und die Energieunabhängigkeit der USA auch im neuen Zeitalter der erneuerbaren Energien fördern.
Ausweg für Europa: «Buy European»?
Für die Europäer sind diese protektionistischen Massnahmen ein mehrfacher Schlag ins Gesicht. Zum einen sind sie grosse Verfechter des Freihandels, dessen Vorteile sie nicht zuletzt innerhalb der Europäischen Union spüren. Zum anderen verbietet das EU-Beihilfegesetz staatliche Unterstützung durch die Mitgliedsstaaten, um den Wettbewerb und die Solidarität innerhalb des Binnenmarktes nicht zu verzerren.
Ein ähnlich protektionistisches Programm mit einer klaren «Buy-European»-Philosophie als Antwort wird von den europäischen Entscheidungsträgern bis jetzt mehrheitlich abgelehnt. Gutes Zureden allein wird jedoch ein Abwandern eines Teils der europäischen Industrie in die USA nicht verhindern können. Es wäre bitter für Europa, wenn es ausgerechnet von den USA, die sich unter Ex-Präsident Donald Trump noch nicht mal zum Pariser Klimaziel bekannten, nun rechts überholt würde.