China als ultimativer Umwelt­sünder?

China ist der grösste Emittent von Treibhausgasen und pocht auf Umweltkonferenzen gleichzeitig auf seinen Status als Entwicklungsland. Während die westliche Welt die Nutzung von Kohle als Energieträger immer weiter reduziert, baut China neue Kohlekraftwerke. Ist China beim Klimawandel der grosse Sündenbock? Lesen Sie die Einschätzung von Nachhaltigkeitsökonomin Silke Humbert.

Text: Silke Humbert

«Im Jahr 2040 werden 40 Prozent aller neu verkauften Autos in China elektrisch sein», erklärt Silke Humbert. (Bild: Getty Images)

Geht es um erfolgreiche Bemühungen zur Reduktion der Treibhausgase im Westen, dauert es meist nur kurz bis China ins Spiel geführt wird. Speziell Chinas Vorliebe zu Kohlekraftwerken stösst im Westen bitter auf. «Alles schön und gut. Aber was bringen die Bemühungen, wenn China alle zwei Wochen ein neues Kohlekraftwerk baut?», heisst es dann.

Die Rollen scheinen klar verteilt zu sein: Der Westen handelt werteorientiert und ist um Umwelt- und Klimaschutz bemüht, während China bei seinem kräftigen Wachstum die Umwelt verschmutzt und trotzdem auf allen Klimakonferenzen unschuldig auf seinen Status als Entwicklungsland pocht. Aber ist es wirklich so einfach?

Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich so zu sein. Während sich viele Länder im Rahmen des Pariser Klimagipfels das Ziel gesetzt haben bis ins Jahr 2050 Netto-Null zu erreichen, hat China die Latte tiefer gelegt.

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(Video: Andreas Guntli)

Was zunächst gegen China spricht

Das Reich der Mitte lässt sich bis 2060 Zeit, um klimaneutral zu werden. Bei der Energieversorgung ist Chinas Anteil an fossilen Energieträgern mit fast 90 Prozent immens hoch. In der Schweiz hingegen liegt er bei knapp 50 Prozent. Aufgrund der hohen Vorkommen in China ist Kohle der präferierte fossile Energieträger. Das hat dazu geführt, dass sich mittlerweile mehr als die Hälfte der weltweiten Kohlekraftwerkkapazitäten in China befindet. Und der Boom zum Bau von Kohlekraftwerken ist immer noch nicht abgeschlossen. Im Jahr 2023 wurden in China neue Kohlekraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 47'000 Megawatt gebaut.1 Setzt man dies in einen globalen Kontext, so entspricht das 90 Prozent der in 2023 netto neu hinzugekommenen Kohlekraftwerkkapazitäten.

Es verwundert auch nicht, dass China mittlerweile zum Land mit den grössten Kohlendioxidemissionen aufgestiegen ist. Daten zeigen, dass China global mittlerweile über 30 Prozent des weltweiten Ausstosses emittiert. In den USA beträgt der Anteil mit 14 Prozent weniger als die Hälfte, in der EU gar nur 7 Prozent.2 Sobald man allerdings die Grösse der Bevölkerung hinzuzieht, dreht sich das Verhältnis. Chinas Emissionen pro Kopf sind dann nur leicht höher als jene in der EU, während die USA einen etwa doppelt so hohen Ausstoss pro Kopf verzeichnen. Zusätzlich gehen etwa 8 Prozent der chinesischen Emissionen auf Produkte zurück, die exportiert werden.

Auch sonst weist China viele Merkmale auf, die nicht in das Bild des typischen Umweltsünders passen wollen: Die chinesische Solarindustrie, die Lieferketten für und der Absatz von Elektroautos sowie die Installierung eines nationalen Handels für CO2-Bepreisung. Welche Argumente sprechen also für und welche gegen China?

Staatspräsident Xi Jinping – der grosse Umweltschützer?

Eine chinesische Greta Thunberg sucht man vergebens. Auch von chinesischen Klimaklebern hat man bis jetzt nie gehört. Während sich der Westen gewohnt ist, dass das Thema Umweltschutz von Aktivistengruppen auf die Agenda gesetzt wird, ist es in China dagegen Chefsache. Auf Xi Jinping selbst geht die Theorie der zwei Berge zurück.3 Goldene und silberne Berge stehen in China für etwas von unschätzbarem Wert. Xi Jinping hat in einer mittlerweile berühmten Rede postuliert, dass klare Gewässer und grüne Berge selber als goldene und silberne Berge anzusehen sind. Das mag erstaunen für ein Land, das als Werkbank der Welt bekannt ist und mit seinen vielen Kohlekraftwerken eine hohe Luftverschmutzung verursacht.

Und doch liegt genau hier der Zusammenhang. Die hohe Luftverschmutzung, die dazu geführt hat, dass Chinesinnen und Chinesen ihre Fenster nicht mehr aufmachen konnten, hat dafür gesorgt, dass der Stellenwert einer sauberen Umwelt gestiegen ist – und zwar auf politischer Ebene. Xi Jinping hat mehrfach betont, dass die erste Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung auf Kosten der Umwelt ging, man aber nun versuchen müsse, im Einklang mit der Natur zu wirtschaften. Ein weiteres Schlagwort, welches die chinesischen Machthaber in diesem Zusammenhang oft benutzen ist das der «ökologischen Zivilisation».

Dass es die chinesischen Machthaber ernst meinen, sieht man beispielsweise daran, dass 2023 bereits der dritte Aktionsplan zur Förderung der Luftqualität herausgegeben wurde. Umweltfreundliche Energien statt Kohle, industrielle Dekarbonisierung und grüner Transport spielen dabei eine grosse Rolle. Als weiteres Indiz kann betrachtet werden, dass in Chinas 14. Fünfjahresplan Umweltziele bindend sind, während die Ziele zur wirtschaftlichen Entwicklung nur Richtwerte darstellen.

China ist führend bei grünen Technologien

Chinas wirtschaftlicher Erholung nach dem Ende der Zero-COVID-Strategie folgte eine hohe Nachfrage nach Elektrizität, die anteilsmässig stark durch Kohle generiert wurde. Die Ziele zur Energieeffizienz, die sich China für das Jahr 2025 gesetzt hat, sind somit in die Ferne gerückt. Das heisst aber nicht, dass China sich auf ganzer Linie von der Zielerreichung entfernt hat. Ein als Ziel formulierter Meilenstein ist, dass die Kohlendioxidemissionen bis ins Jahr 2030 ihren Höhepunkt erreicht haben und danach abnehmen sollen.

Dieses Ziel rückt immer näher: Durch den enormen Ausbau der Solarkraft am Elektrizitätsmix nimmt der grüne Anteil immer weiter zu. So hat China allein 2023 mehr Solarpanels installiert als die USA in ihrer ganzen Geschichte. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass China das für 2030 selbstgesteckte Ziel von 1'200 GW an Kapazitäten in erneuerbarer Energie schon 2024 erreichen wird.

Auch bei den Elektrofahrzeugen hat China die Nase vorn (vgl. Grafik). Mehr als die Hälfte aller Elektrofahrzeuge fährt auf den Strassen Chinas. Dort war letztes Jahr schon jedes dritte neu verkaufte Auto elektrisch betrieben – in Europa war es jedes vierte und in den USA jedes zehnte. Zusätzlich treiben die Chinesen das bidirektionale Laden voran. Autobatterien sollen intelligent in das Stromnetz eingebunden werden. Durch zeitabhängige Tarife sollen sie vermehrt während Randzeiten aufgeladen werden und gleichzeitig als mobile Speicher fungieren, die nicht nur das Auto mit Strom versorgen, sondern auch den Haushalt. Bei Bedarf soll Strom auch wieder zurück ins Netz geschickt werden können. Mit dem bidirektionalen Laden schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Stromnachfrage zu Spitzenzeiten wird reduziert und es bedarf weniger externer Stromspeicher. Bis im nächsten Jahr möchte China hierfür 50 Pilotprogramme in verschiedenen Regionen aufsetzen.

Anzahl Elektro-Autos in Millionen

Quellen: International Energy Agency, Zürcher Kantonalbank

China zu verurteilen ist nicht angebracht

Dass China seine Position in grünen Technologien in den letzten Jahren stark ausgebaut hat, sieht man an den Ergebnissen in der wissenschaftlichen Forschung. Während die EU bei der Anzahl wissenschaftlicher Publikationen zu umweltfreundlichen Technologien noch vor über zehn Jahren die Nase vorn hatte, belegt mittlerweile das Reich der Mitte den ersten Platz. Um Aussagen über die Qualität der Forschung zu gewinnen, wird gezählt, wie oft eine Publikation zitiert wird. Auch hier lässt China die EU hinter sich, hat die USA aber noch nicht eingeholt. Da es mehrere Jahre braucht, bis sich Forschungsergebnisse in Umsätzen und Gewinnen in der Realwirtschaft manifestieren, ist davon auszugehen, dass China seine führende Rolle in grünen Technologien auf absehbare Zeit behalten wird.

Wieso werden dann aber so viele Kohlekraftwerke in China gebaut? Drei Gründe:

  • Erstens wird das Thema Energiesicherheit grossgeschrieben, nachdem zum Beispiel 2023 die Wasserkraft wegen grosser Trockenheit weniger Elektrizität liefern konnte. Eine Überinvestition in Kohlekraftwerke wird deshalb in Kauf genommen.
  • Zweitens werden Kohlekraftwerke als eine Art Bereitschaftsdienst für Nachfragespitzen angesehen. Da Solar- und Windkraft an die Wetterbedingungen geknüpft sind, möchte China einen wetterunabhängigen Energielieferanten bei hoher Nachfrage haben.
  • Drittens sprechen Expertinnen und Experten von einem Fehler im Anreizsystem der Lokalregierungen. Die stetig abnehmende Auslastung der Kohlekraftwerke spricht jedenfalls dafür, dass China die grosse Anzahl an Kohlekraftwerken gar nicht brauchen wird.

Wie lautet das Fazit?

Die Welt ist voller Widersprüche und Chinas Rolle im Klimaschutz ist ein gutes Beispiel dafür. China ist in absoluten Zahlen sowohl grösster Emittent von Kohlendioxid als auch Vorreiter in grünen Technologien. Es wäre daher vorschnell, wenn der Westen China als Umweltsünder verurteilt, ohne sich ein umfassendes Bild zu machen. Will man die Emissionen fair vergleichen, müssen sowohl das Entwicklungsstadium eines Landes wie auch die Bevölkerungsgrösse berücksichtigt werden. Und auch hier zeigt sich: China emittiert pro Kopf etwa gleich viel Kohlendioxidemissionen wie die EU, aber deutlich weniger als die USA oder das Vereinigte Königreich zu dem Zeitpunkt als diese Regionen jeweils ein ähnliches Bruttoinlandsprodukt pro Kopf aufwiesen.

 

Fussnoten

1 Global Energy Monitor
2 Our World in Data
3 Carbon Brief