Die Schweizer Inflation bleibt hartnäckig hoch

Der Geist der Inflation ist auch in der Schweiz aus der Flasche entwichen und lässt sich nicht so rasch wieder einfangen. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) hat entsprechend am 22. Juni 2023 den Leitzins um weitere 25 Basispunkte auf 1,75 Prozent angehoben und in Aussicht gestellt, dass ein weiterer Zinsschritt folgen dürfte. Sorgen bereiten SNB-Präsident Thomas Jordan insbesondere die «anhaltenden Zweitrundeneffekte, höhere Strompreise und Mieten sowie der persistentere Inflationsdruck aus dem Ausland». Eine Einschätzung von David Marmet, Chefökonom Schweiz.

Text: David Marmet

David Marmet, Chefökonom Schweiz der Zürcher Kantonalbank.

Eine Parabel aus 1001 Nacht lässt grüssen

Der Geist ist aus der Flasche – und so schnell lässt er sich auch nicht wieder einfangen. Mit dieser Analogie zum Märchen aus 1001 Nacht kann die aktuelle Inflationsentwicklung beschrieben werden. Zumindest wird von Seiten der Notenbanken in die Richtung argumentiert. Im Zuge der Erholung nach der Covid-Pandemie und aufgrund des Ukrainekriegs sind die Energiepreise angestiegen. Zwar notieren sie inzwischen wieder deutlich unter ihren Höchstständen, doch haben sich mittlerweile Zweit- und Drittrundeneffekte eingestellt, die so rasch nicht wieder verschwinden werden.

So argumentierte jüngst der Präsident der Schweizerischen Nationalbank, Thomas Jordan, über verschiedene Medienkanäle. Die SNB hat entsprechend am 22. Juni 2023 den Leitzins um weitere 25 Basispunkte auf 1,75 Prozent angehoben und gleichzeitig in Aussicht gestellt, dass ein weiterer Zinsschritt folgen dürfte.

Nur temporärer Inflationsrückgang

Die Inflationsraten sind in der Schweiz bekanntlich weniger stark angestiegen als im nahen Ausland. Insbesondere durch das Einsetzen von Basiseffekten bei den Energiepreisen sind die Inflationsraten in den letzten Monaten wieder gesunken. Dieser Rückgang wird sich vorerst fortsetzen. Die Schweizer Inflationsraten dürften bis und mit August 2023 innerhalb des Zielbandes der SNB von 0 bis 2 Prozent notieren.

Allerdings ist ab dem Herbst wieder mit steigenden Raten zu rechnen. In ihrer neusten bedingten Inflationsprognose geht die SNB von einer durchschnittlichen Inflation von 2,2 Prozent im Jahr 2024 und 2,1 Prozent im Jahr 2025 aus. Damit liegt die Inflation mittelfristig knapp über dem oberen Ende des Toleranzbandes. In der im März veröffentlichten Prognose erwartete die SNB noch eine Inflation von 2 Prozent sowohl für 2024 als auch für 2025 – bei einem konstanten Leitzins von 1,5 Prozent. Der Bremseffekt durch die höheren Leitzinsen ist anscheinend noch ungenügend. Ein nächster Zinsschritt im September drängt sich da aus heutiger Sicht auf.

Signifikantes Mietsteigerungspotenzial …

Was sind die Treiber für wieder steigende Inflationsraten? Für SNB-Präsident Thomas Jordan sind es «anhaltende Zweitrundeneffekte, höhere Strompreise und Mieten sowie der persistentere Inflationsdruck aus dem Ausland» (Rede anlässlich der Medienkonferenz vom 22. Juni). Unserer Ansicht nach werden die Mieten ab November 2023 der wichtigste Treiber für die dann steigenden Inflationsraten sein.

Aufgrund des höheren Zins- und Renditeumfelds ist im Juni erstmals der Referenzzinssatz gestiegen, auf neu 1,50 Prozent. Bei Mietverträgen, die auf einem Satz von 1,25 Prozent beruhen, kann es per nächstem Kündigungstermin zu einer Mieterhöhung um 3 Prozent kommen. Dies ist aber nur ein Teil des Mieterhöhungspotenzials. Zusätzlich können 40 Prozent der aufgelaufenen Inflation umgelegt werden. Massgebend dafür ist der Stand des Landesindexes der Konsumentenpreise (LIK). Nachdem dieser zwischen 2007 und 2021 seitwärts tendierte und es so 15 Jahre lang praktisch keinen Spielraum für Inflationsanpassungen gab, werfen Mieter und Vermieter nun wieder vermehrt einen Blick in die Verträge und die darin fixierten Indexwerte zu Mietbeginn bzw. seit der letzten Anpassung. Aktuell liegt der LIK gut 5 Prozent über dem Niveau der vorangegangenen Periode. Bei vielen Mietverträgen ergibt sich dadurch weiteres Erhöhungspotenzial von 2 bis 3 Prozent. Darüber hinaus kann der Vermieter allgemeine Kostensteigerungen von pauschal 0,5 Prozent pro Jahr geltend machen. Kommt es also zu einer Mieterhöhung, ergibt sich insgesamt ein Steigerungspotenzial von 4 bis 7 Prozent.

… mit entscheidendem Einfluss auf die Teuerung

Nun werden bei Weitem nicht alle Mietverträge auf den nächsten Kündigungstermin angepasst. Schätzungen zufolge dürften aktuell rund die Hälfte aller Mietverträge auf einem Referenzzinssatz von 1,25 Prozent beruhen. Dennoch ergibt sich dadurch eine signifikante Auswirkung auf die Inflationsrate, weil der Anteil der Miete am LIK bei rund 20 Prozent liegt. Neben den eigentlichen Wohnungsmieten fallen die unterstellten Preise für selbstgenutztes Wohneigentum darunter. Letztere werden nach dem Mietäquivalenzprinzip berechnet und beruhen damit auf den gleichen Daten wie der Mietpreisindex.

Bei einer vereinfachten Annahme einer Mieterhöhung von 5 auf 50 Prozent aller Mietverhältnisse und einem Gewicht der Mieten am LIK von 20 Prozent resultiert ein Effekt auf die Gesamtinflation von 0,5 Prozentpunkten. Eine «Miet-Preis-Spirale», bei der steigende Mieten die Inflationsdynamik weiter erhöhen, vermag dies nicht auszulösen. Allerdings führt der Mechanismus dazu, dass sich der Inflationsdruck hartnäckiger hält und erst über die Zeit vollständig sichtbar wird. Und über den Prognosehorizont der SNB von drei Jahren ist mit zwei weiteren Referenzzinsanpassungen zu rechnen, die zunehmend auf einen grösseren Teil der Mietverhältnisse geltend gemacht werden könnten.

Spitaltarife, GA, Strom, MwSt, Auslandteuerung

Dass die Inflation wohl hartnäckig bleiben wird, ist jedoch nicht nur höheren Mieten geschuldet. Die Schweiz hat einen hohen Anteil an administrierten und halbadministrierten Preisen. Das Bundesamt für Statistik weist den Gütern mit administrierten Preisen ein Gewicht von 25 Prozent im LIK zu. Werden die Subventionen und Importkontingente der landwirtschaftlichen Produkte sowie die mit dem Referenzzinssatz in Verbindung stehenden Mieten ebenfalls den (halb-)administrierten Preisen zugerechnet, ist deren Anteil nochmals bedeutend höher.

Beispielsweise fliessen stationäre Spitaldienstleistungen nur einmal jährlich, und zwar im August, in die Teuerungsmessung ein. Mit 3,2 Prozent haben diese ein grösseres Gewicht im LIK als etwa die Position «neue Automobile» (2,9 Prozent). Die Spitäler monieren, dass es kostendeckende Tarife brauche; sie fordern eine nicht unrealistische Tariferhöhung von 5 Prozent. Beim öffentlichen Verkehr wird die SBB den Preis des Generalabonnements (GA) im kommenden Dezember um durchschnittlich 5,1 Prozent erhöhen. Energieseitig hat der Verband der Schweizerischen Elektrizitätsunternehmen jüngst vorgerechnet, dass die Strompreise im nächsten Jahr im Durchschnitt um 12 Prozent steigen werden. Strom hat im LIK ein Gewicht von knapp 1,8 Prozent. Zu erwähnen bleibt auch, dass als Folge der durch Volk und Stände im September 2022 angenommenen Reform AHV 21 die Mehrwertsteuer per 1. Januar 2024 erhöht wird – konkret: Der Normalsatz steigt um 0,4 Prozentpunkte auf 8,1 Prozent. Diese wichtigen, aber doch an dieser Stelle anekdotisch aufgeführten Preissteigerungen ergeben insgesamt einen möglichen Effekt auf die Inflationsrate von gegen +1 Prozentpunkt, zuzüglich der höheren Mieten.

Schliesslich ist der von SNB-Präsident Jordan ebenfalls als wichtiger Treiber erwähnte persistente Inflationsdruck aus dem Ausland schwer quantifizierbar. Zuletzt steuerten die Auslandgüter ohne Erdölprodukte 0,6 Prozent zur Schweizer Inflation bei.

Administrierte Preise verzögern Inflationsdynamik

Neben der Aufwertung des Schweizer Frankens und dem Energiemix mit einem hohen Anteil an Wasserkraft und Atomenergie ist der hohe Anteil administrierter und halbadministrierter Preise, die verzögert auf die Preismechanismen des Marktes reagieren, einer der zentralen Gründe, weshalb der Schweizer Inflationsanstieg relativ verhalten ausfiel. Im Umkehrschluss heisst das aber auch, dass die administrierten Preise zeitlich verzögert einen generellen Preisrückgang nachvollziehen. Wir teilen deshalb die Ansicht der SNB, dass die Inflation mittelfristig hartnäckig hoch bleiben wird und die SNB präventiv die Geldpolitik noch etwas weiter straffen wird. Wir sind indes zuversichtlicher, dass die Inflation 2024 leicht unter der tolerierten Marke von 2 Prozent notieren wird. Dies dürfte der SNB ab Herbst 2024 wieder die Möglichkeit eröffnen, eine erste Leitzinssenkung vorzunehmen. Wir rechnen mit einer ersten Zinssenkung um 25 Basispunkte im September 2024. Im Vergleich: die US-Notenbank Fed und die europäische Zentralbank dürften bis dahin die Leitzinsen von ihrem Hoch bereits um 100 bis 150 Basispunkte gesenkt haben.

Anhaltende Frankenstärke

Die Entschlossenheit der SNB, die eng definierte Preisstabilität sicherzustellen, stützt den Schweizer Franken. Im 1. Halbjahr 2023 gehörte der Franken erneut zu den stärksten Währungen, und auch in der 2. Jahreshälfte rechnen wir mit einer anhaltenden Stärke. Der Franken erscheint trotz weiterer Aufwertung nicht überbewertet. Die von uns erwartete Abschwächung der Wirtschaft in den USA und mit etwas Verzögerung in Europa bei gleichzeitig robuster Konjunktur in der Schweiz dürfte die Währung als sicheren Hafen attraktiv machen.

Und die SNB ist weiterhin bereit, neben dem Zinskanal bei Bedarf die monetären Bedingungen mittels Devisenverkäufen zu straffen. Der Verkauf von Fremdwährungen könnte künftig gar der bevorzugte Kanal sein, denn wie oben ausgeführt, sind Zinserhöhungen aufgrund des Einflusses auf den Referenzzinssatz und des damit verbundenen steigernden Effekts auf die Mieten in der Inflationsbekämpfung ein zweischneidiges Schwert.

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