Geduldsprobe für die EZB

Noch nie in ihrer Geschichte hat die Europäische Zentralbank (EZB) die Leitzinsen so schnell und so stark angehoben. Dennoch dämpft die restriktive Geldpolitik die Inflation nur indirekt und mit grosser Verzögerung. Die Geduld der EZB wird dabei auf eine harte Probe gestellt. Lesen Sie die Einschätzung von Senior Economist Europe, Sascha Jucker.

Text: Sascha Jucker

Sascha Jucker, Senior Economist Europe (Bild: Andreas Guntli)
«Wir sind deutlich vorsichtiger als andere Institute, was den künftigen Wirtschaftsverlauf angeht», sagt Sascha Jucker. (Bild: Andreas Guntli)

Wie noch selten in der Geschichte der Europäischen Zentralbank (EZB) herrscht seit einigen Monaten Einigkeit über den geldpolitischen Weg. Vom deutschen Falken (restriktive Haltung) Isabel Schnabel bis zur italienischen Taube (expansive Haltung) Fabio Panetta sind sich die Ratsmitglieder einig, dass der Inflationsdruck in der Eurozone zu hoch und der geldpolitische Leitzins somit zu tief ist.

Vor der ersten Zinserhöhung vor einem Jahr hatte noch ein heftiges Tauziehen zwischen Tauben und Falken innerhalb der EZB stattgefunden. Angesichts der zahlreichen bereits getätigten Zinsschritte dürfte es jedoch nur eine Frage der Zeit sein, dass in Frankfurt wieder heissere Debatten aufflammen.

In einer Rede verglich EZB-Präsidentin Christine Lagarde neulich den Zinszyklus mit einem Flug: Mit den ersten grossen Leitzinserhöhungen im vergangenen Jahr galt es, schnell an Höhe zu gewinnen. Mittlerweile liege der Fokus darauf, das Flugzeug auf die richtige Flughöhe zu bringen.

Leitzinsen: Im Zweifel etwas höher

Die grosse Frage ist, wo die EZB diese optimale Flughöhe vermutet. Auf der einen Seite tragen die Währungshüter mit dem jüngst gedrosselten Tempo der Zinserhöhungen dem Umstand Rechnung, dass die Geldpolitik bereits Bremsspuren hinterlassen hat. Auf der anderen Seite lässt die Rhetorik der EZB-Ratsmitglieder keine Zweifel offen, dass die Notenbank noch nicht auf der gewünschten Flughöhe angelangt ist. Aktuell scheint der Konsens innerhalb der EZB bei weiteren Zinserhöhungen bis im 3. Quartal zu liegen. Das deckt sich mit den Erwartungen der Finanzmärkte. Für die EZB sind die Risiken im aktuellen Zinszyklus sehr asymmetrisch ausgestaltet: Sollte die EZB die Inflation ein zweites Mal unterschätzen und dieser erneut hinterherrennen müssen, wäre ihre Reputation stark beschädigt. Aus aktueller Risikomanagement-Perspektive wird die EZB deshalb wohl lieber etwas zu hoch «fliegen» wollen als zu tief. Damit steigt allerdings unweigerlich auch die Wahrscheinlichkeit einer unsanften Landung.

Viele Herausforderungen für die EZB

Eine der Herausforderungen ist die verzögerte Wirkung der Geldpolitik. So haben Leitzinsanpassungen keinen unmittelbaren Effekt auf die konjunkturelle Entwicklung oder die Inflation. Gemäss Schätzungen für die Eurozone dauert die Verzögerung zwischen Zinsentscheid und realwirtschaftlichen Auswirkungen wenige Quartale bis zu mehr als einem Jahr. Die Auswirkungen der jüngsten Zinserhöhungen werden also erst im nächsten Jahr vollumfänglich sichtbar sein.

Darüber hinaus kann die Inflationssteuerung nur sehr grob und indirekt vorgenommen werden. Zwischen der Notenbank und den Firmen, die über die Preise für Güter und Dienstleistungen entscheiden, liegen diverse andere Wirtschaftsakteure. Der unmittelbare Kanal der Notenbank zur Wirtschaft führt über die Geschäftsbanken, die anhand der vorherrschenden Geldpolitik über das Zinsniveau der Kredite an Firmen und Haushalte entscheiden. Dadurch beeinflussen die Banken das Investitions- und Konsumverhalten von Unternehmen und Haushalten massgeblich – und damit auch das Wirtschaftswachstum. Dieses wiederum bestimmt die Nachfrage nach Arbeitskräften und letztlich das Lohnwachstum.

Eine zusätzliche Herausforderung bei der Inflationsbekämpfung liegt in den nichtlinearen Auswirkungen der geldpolitischen Veränderungen. Mit zunehmendem Leitzinsniveau steigt die restriktive Wirkung jedes Zinsschrittes. Die Leitzinsentscheide in diesem Jahr dürften somit eine stärkere Wirkung entfalten als diejenigen im vergangenen Jahr – zumindest was das Wirtschaftswachstum anbelangt. Im aktuellen Zinszyklus kommt eine zusätzliche Schwierigkeit hinzu: Noch nie in der Geschichte der EZB wurden die Leitzinsen so schnell und so stark erhöht. Der rasante Richtungswechsel lässt vermuten, dass die Auswir-kungen auf die Wirtschaft zwar verzögert, aber dann abrupter auftreten könnten als in vergangenen Zinserhöhungszyklen.

Eine holprige Landung

Diese Kombination aus allen Faktoren erhöht das Risiko einer anhaltenden Rezession. Bereits über die Wintermonate ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der Eurozone aufgrund der Sorge um die Energieversorgung und die stark gestiegenen Preise leicht geschrumpft. Während Deutschland in eine technische Rezession gerutscht ist, fiel die Konjunkturdynamik in der europäischen Peripherie deutlich besser aus. Der globale Nachholbedarf beim Reisen hat dort den wichtigen Tourismussektor regelrecht beflügelt. Abgesehen von diesen positiven Spätfolgen der Pandemie bleibt der konjunkturelle Ausblick aber flau. Sollte die restriktive Geldpolitik ihre Wirkung mit der üblichen Verzögerung entfalten, wird die Eurozone im 2. Halbjahr bestenfalls stagnieren. Insbesondere zinssensitive Wirtschaftsbereiche wie der Immobilien- und der Bausektor sowie die Industrie werden den Gegenwind zu spüren bekommen. Die ebenfalls zinssensitiven Unternehmensinvestitionen hielten sich bisher erstaunlich gut, obwohl sich gemäss aktuellen Daten auch dort eine markante Verlangsamung abzeichnet.

Sinkender Preisdruck und fragiles Finanzsystem

Was sich auf den ersten Blick nach einem pessimistischen Szenario anhört, ist nichts anderes als die Wirkungsweise einer restriktiven Geldpolitik. Neben unserem Szenario einer holprigen Landung gibt es auch Argumente für einen optimistischeren Ausblick. So wird die Inflation in den nächsten Monaten weiter fallen, während die Nominallöhne überdurchschnittlich steigen. Der Kaufkraftverlust der letzten zwei Jahre wird damit gemindert, was dem Konsum Auftrieb verleihen sollte. Und solange der Konsum hält, ist eine Rezession äusserst unwahrscheinlich. Auch häuften die Haushalte während der Pandemie hohe Überschussersparnisse an. Im Gegensatz zu den US-Konsumenten haben die Europäer diese Reserven bisher kaum angezapft.

Gemäss dem jüngsten EZB-Bericht bleibt das Finanzsystem aber äusserst fragil, weil sich die Wirtschaft an die lange Tiefzinsphase gewöhnt hat. Und die hohen Bewertungen sowie die tiefe Liquidität verstärken die Anfälligkeit des Finanzsektors auf unvorhergesehene Ereignisse. Darüber hinaus wird die wirtschaftliche Resilienz von Firmen, Haushalten und Staaten mit steigenden Zinsen getestet. Europäische Banken sind im Vergleich zur Finanzkrise zwar deutlich besser kapitalisiert und reguliert als viele US-Finanzhäuser. Bei einem breiten Verlust des Vertrauens in den Sektor sind die Kapitalpuffer aber schnell aufgebraucht. Im weniger regulierten Nicht-Banken-Sektor gehen die Hauptrisiken aus dem hohen Exposure bei Hochrisikoanlagen und im Immobiliensektor hervor.

Fazit: Turbulenzen sind wahrscheinlich

Mit dem schnellsten Leitzinszyklus in der Geschichte der EZB hat sich diese der maximalen Flughöhe angenähert. Weitere Zinsschritte bleiben wahrscheinlich, aber in erster Linie auch von den kommenden Konjunktur- und Inflationsdaten abhängig. Die Inflationsbekämpfung ist allerdings mit vielen Herausforderungen verknüpft, und einige negative Auswirkungen auf die Konjunktur sind bereits jetzt ersichtlich. Wir sind deshalb deutlich vorsichtiger als andere Institute, was den künftigen Wirtschaftsverlauf anbelangt. Die EZB ihrerseits wird über den wirtschaftlichen Abschwung der nächsten Quartale hinwegsehen oder diesen gar begrüssen, solange er geordnet abläuft. Da wir von keiner grossflächigen Finanzmarkt- oder Immobilienkrise ausgehen, sehen wir auch keinen Grund für Leitzins-senkungen in diesem Jahr. Es wäre gleichwohl überraschend, wenn im aktuellen rapiden Zinszyklus keinerlei Schwachstellen im System zum Vorschein kämen. Ganz ohne Turbulenzen wird wohl auch dieser EZB-Flug nicht vonstattengehen.

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