Geht Europa das Gas aus?

Die aktuelle Situation ist für Europa als Ganzes theoretisch tragbar, für einzelne Länder mit hohem Gasanteil am Energieverbrauch hingegen kritisch, sagt Silke Humbert, Sustainability Research Zürcher Kantonalbank.

Text: Silke Humbert

Noch sorgt die Gaszufuhr für heimisches Flackern am Herd. (Bild: Pexels)

Die Entscheidung, Öl und Kohle aus Russland als Antwort auf Putins Angriff auf die Ukraine zu sanktionieren, hat die EU schnell gefällt. Anders sieht es mit dem Gas aus. Mit dem RePowerEU-Programm hat die EU einen Plan vorgelegt, mit dem der Ausstieg aus allen russischen fossilen Brennstoffen bis 2027 erfolgen soll. Doch Putin ist der EU zuvorgekommen und hat seinerseits den Gasfluss nach Europa gedrosselt. Unbemerkt damit angefangen hat er schon vor dem Angriff auf die Ukraine.

Mittlerweile hat er den Gashahn noch fester zugedreht, und es fliesst nur noch ein Drittel so viel russisches Gas nach Europa wie vor einem Jahr. Der Winter steht nun vor der Tür und alle Blicke richten sich nun gebannt auf die Füllhöhe der Gasspeicher. Auf welche Gasimporte kann sich Europa nun stützen und wie verhält sich die Angebots- und die Nachfragedynamik?

Angebotsüberschuss im Sommer

Die Nachfrage in den Sommermonaten (April bis September) setzt sich etwa zu je einem Drittel aus dem Bedarf für Privathaushalte und Gewerbe, Gas für die Elektrifizierung und Gas für die Industrie zusammen. Angebotsseitig kommt der grösste Posten aus Norwegen, gefolgt von LNG-Importen, die mittlerweile zu über 40% aus den USA stammen. Flüssiggas und Gas aus Norwegen machen somit aktuell zusammen etwa 70% der europäischen Gasimporte aus. Gasimporte aus Grossbritannien und Nordafrika belaufen sich je auf etwa 10%.

Durch die reduzierte Gasmenge stellen die Gasimporte aus Russland derzeit nicht mehr als 10% des gesamten Gasimports dar. Vor einem Jahr sah die Zusammensetzung des europäischen Gasimports noch anders aus: Je ein Drittel des Gases stammte aus Russland und Norwegen, LNG machte etwa 20% aus und der Rest verteilte sich auf kleinere Exportregionen.

Die stark reduzierten Gaslieferungen aus Russland sind zum grössten Teil durch LNG-Lieferungen und Gasimporte aus Norwegen ersetzt worden, konnten aber nicht vollständig kompensiert werden. Das Angebot an Gas übersteigt auch aktuell noch die Nachfrage in den Sommermonaten deutlich: 30% der gesamten Importe stehen aktuell keiner Nachfrage gegenüber und können so zum Auffüllen der Gasspeicher benutzt werden.

Nachfrageüberhang im Winter

In den Wintermonaten sieht die Lage anders aus. Die Nachfrage steigt etwa auf das Doppelte, getrieben durch einen verdreifachten Anstieg der privaten und gewerblichen Nachfrage. Hier wird Gas hauptsächlich zum Heizen gebraucht; so heizen zum Beispiel die Hälfte aller deutschen Haushalte mit Erdgas. Das Angebot hingegen ist nicht stark elastisch.

Die Schätzungen für den Winter 2022/23 sehen einen Anstieg um etwa 15% durch kleine Zunahmen der Importe aus den Niederlanden und Nordafrika und mehr LNG als in den Sommermonaten vor. Jeden kommenden Wintermonat werden so etwa 16% der Gasnachfrage nicht durch importiertes Gas abgedeckt. Geht man von einem Stopp des russischen Gases im Winter aus, so beläuft sich die monatliche Angebotslücke auf 23% der Nachfrage.

Reicht der Füllstand der Speicher?

Theoretisch sieht es für Europa auch ohne russisches Gas machbar aus. Die Praxis ist, wie so oft, komplizierter. So würden verschiedene Mechanismen, wie etwa Rationierungen, Auktionen in der Industrie oder die Weitergabe der Preiserhöhungen an die Verbraucher, schon lange vor Erreichen der schwarzen Null auf der Füllstandsanzeige aktiviert werden. Und diese Massnahmen würden sich auch entsprechend negativ in den Volkswirtschaften widerspiegeln.

Zusätzlich sind die Schätzungen mit grosser Unsicherheit behaftet:

  • Die Hauptpipeline Nordstream 1, über die russisches Gas nach Deutschland geliefert wird, wurde am 11. Juli für 10 Tage für die Instandhaltung geschlossen. Es ist gut möglich, dass Russland diese Instandhaltung zum Anlass nimmt, seine Gaslieferungen komplett zu stoppen. Die Gasspeicher werden dann bis zum Winter nicht mehr komplett gefüllt werden können.
  • Wie viel Gas im Winter tatsächlich gebraucht wird, hängt stark von der Kälte des Winters ab, da etwa zwei Drittel des nachgefragten Gases zum Heizen gebraucht werden. In den letzten 10 Jahren waren die Winter deutlich milder als in den Jahren zuvor, allerdings ist die Varianz in den Temperaturen im Winter deutlich höher als im Sommer.
  • Unklar ist auch, wie sehr Apelle zur Gasreduktion von den Haushalten beherzigt werden und wie schnell die Industrie auf andere Energiequellen umsteigen kann. Die Internationale Energieagentur hat aufgezeigt, dass für jedes Grad weniger die Energie zum Heizen um 7% reduziert wird.
  • Kommen noch weitere Engpässe hinzu, wie etwa der Brand in der amerikanischen LNG-Anlage Freeport Anfang Juni oder der aktuelle Streik in der Gasbranche in Norwegen, strapaziert das einen Markt, der schon jetzt äusserst angespannt ist und innerhalb eines Jahres um über 400% zugelegt hat.

Fazit

Da Gas in Europa vielfach zum Heizen benutzt wird, unterliegt der Angebots- und Nachfrage-Mechanismus einer starken Saisonalität, und der Füllstand der Gasspeicher spielt eine grosse Rolle für den Winter. Ob die Speicherstände reichen, hängt von vielen Variablen ab. Grosse europäische Länder wie Deutschland und Italien tun gut daran, auf einen möglichst hohen Füllstand hinzuarbeiten. Erstens ist der Anteil Erdgas mit 24% für Deutschland (respektive 39% für Italien) am gesamten Energieverbrauch sehr hoch. Zweitens ist auch der Anteil russisches Erdgas am gesamten Erdgasverbrauch mit über 50% in beiden Ländern sehr hoch.