Geldpolitik ist auch Sozialpolitik
Lange Zeit war Inflation kein Thema mehr. Nun hat der Wind gedreht und die gestiegenen Konsumentenpreise sind in aller Munde. David Marmet, Chefökonom Schweiz, geht der These nach, ob ärmere Bevölkerungsschichten überdurchschnittlich stark von der Inflation betroffen sind.
Text: David Marmet
In den letzten Jahren war die Inflation von Gütern und Dienstleistungen kaum Gegenstand hitziger politischer Diskussionen. Vielmehr stand die Vermögenspreisinflation im Vordergrund. Es wurde argumentiert, dass die vermögenden Bevölkerungsschichten überdurchschnittlich von dieser Art der Inflation profitierten. Steigende Aktien- und Immobilienpreise kommen denjenigen zugute, die solche Güter besitzen.
Nun hat der Wind jedoch gedreht und plötzlich ist die Inflation in aller Munde. In den letzten 20 Jahren stiegen die Preise von Gütern und Dienstleistungen in der Schweiz jährlich um weniger als 0.4 Prozent. In diesem Jahr dürfte die mit dem Landesindex der Konsumentenpreise gemessene Inflation indes bei durchschnittlich 2.6 Prozent zu liegen kommen.
In der Presse und auf politischen Bühnen wird argumentiert, ärmere Bevölkerungsschichten seien sowohl von der Vermögenspreis- als auch von der Konsumentenpreisinflation überdurchschnittlich stark negativ betroffen. Stimmt die These, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden?
Hoher Kaufkraftverlust für Haushalte mit niedrigem Einkommen
Wie eine kürzlich publizierte Studie der Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF) zeigt, waren 2022 Haushalte mit hohem Einkommen diejenigen, die mit der höchsten Konsumentenpreisinflation konfrontiert waren. Begründet wird dies mit überdurchschnittlich hohen Preisanstiegen beim Luftverkehr und Hausrat sowie bei Personenwagen, wofür einkommensstarke Haushalte anteilsmässig mehr ausgeben. Diese Fakten sprechen also gegen die These.
Andererseits gilt jedoch: Die Inflation trifft einkommensstarke Haushalte zwar in absoluten Zahlen stärker, sie haben jedoch ein im Verhältnis zu ihren Konsumausgaben hohes verfügbares Einkommen. Gemäss Erhebungen des Bundesamtes für Statistik können einkommensschwächere Haushalte mit einem Bruttoeinkommen von CHF 5'500 pro Monat über rund CHF 4'000 frei verfügen, also nach Abzug von Steuern, Krankenkassenprämien und Sozialversicherungsbeiträgen. Rechnen wir noch die Konsumausgaben weg, also die Ausgaben für Wohnen, Nahrungsmittel, Kleider, Verkehr etc., bleibt ihnen durchschnittlich ein Betrag von CHF 160, den sie auf die hohe Kante legen können. Haushalte mit knapp CHF 20'000 Bruttoeinkommen können hingegen über CHF 13'000 frei verfügen und monatlich rund CHF 4'500 sparen.
Anders formuliert: Haushalte mit niedrigem Einkommen haben bei steigender Konsumentenpreisinflation einen höheren Kaufkraftverlust hinzunehmen als Haushalte mit hohem Einkommen. Der Grund ist, dass die Konsumausgaben bei Ersteren einen viel höheren Anteil am Einkommen ausmachen.
Wird die Schere zwischen Armen und Reichen grösser?
Bei hoher Vermögenspreisinflation verlieren die Haushalte mit niedrigem Einkommen zwar relativ zu den reichen Haushalten. Absolut betrachtet gehören sie aber nicht zu den Geprellten. Sie partizipieren nicht am steigenden Vermögen, erleiden umgekehrt aber auch keinen Verlust bei sinkenden Bewertungen. Bei der Konsumentenpreisinflation nehmen sie hingegen tatsächlich grössere Einbussen in Form von Kaufkraftverlusten hin.
Als vorrangiges Ziel hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) die Preisstabilität zu gewährleisten. Kann sie auf mittlere Frist diesem Ziel gerecht werden, ist dies für die Volkswirtschaft von grossem Nutzen. Dennoch sind bei einer gemässigten Inflation vor allem Haushalte mit niedrigem Einkommen die Nutzniesser: Wirksame Geldpolitik ist folglich auch effektive Sozialpolitik. Die aktuell hohen Inflationsraten rechtfertigen daher die restriktive Geldpolitik der SNB.