Globale Lieferengpässe: Der Weg zurück in die Normalität

Obwohl sich die Lieferengpässe mit einer restriktiveren Geldpolitik nicht in Luft auflösen werden, ist Nichtstun nicht unbedingt die beste Option für die Währungshüter, sagt Senior Economist Sascha Jucker.

Text: Sascha Jucker

Hafen mit Frachtschiffen und Containern
Lieferverzögerungen: Ab dem Frühling darf mit einer gewissen Entspannung gerechnet werden. (Bild: Raimond Spekking)

Die Inflation erreicht in vielen Industrieländern monatlich neue Rekordwerte, und die Debatte über eine vorübergehend oder anhaltend hohe Teuerung scheint so bald nicht abzuflachen. Trotz aller Unstimmigkeiten herrscht zumindest Einigkeit darüber, dass ein beträchtlicher Teil des Inflationsschubs den globalen Lieferengpässen geschuldet ist. Ein Phänomen, das zu Beginn des Jahres von vielen als kurzfristig und deshalb unbedeutend eingestuft wurde, macht sich in der Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend bemerkbar. Derweil mangelt es nicht an Berichten aus verschiedensten Wirtschaftsbereichen: Verstopfte Schiffshäfen, mangelnde Chips für Fahrzeuge und Elektronikware und stark gestiegene Rohstoff- und Transportpreise sind nur einige der Konsequenzen des aktuellen Ungleichgewichts.

Atypische Handelsflüsse während der Rezession

Die aktuelle Situation hat ihren Ursprung in der Rezession im vergangenen Jahr, die nicht nur die tiefste seit der Nachkriegszeit, sondern auch nur von sehr kurzer Dauer war. Und so atypisch die Talfahrt war, so aussergewöhnlich ist auch die Erholungsphase, in der wir uns seither befinden. Der Aufschwung verläuft im aktuellen Zyklus deutlich asynchroner als in der Weltwirtschaftskrise von 2009. Dies hängt damit zusammen, dass die jüngste Wirtschaftskrise grösstenteils eine staatlich verordnete Konsumrezession war und deshalb auch der Aufschwung massgeblich von behördlichen Entscheiden abhängt. So erholte sich Chinas Wirtschaft bereits im Frühling 2020 wieder, während die Mehrheit der westlichen Industrieländer noch in Lockdowns verharrten. Neben der asynchronen Erholungsphase herrschte auch im internationalen Warenhandel eine Anomalie. Typischerweise bildet sich das Defizit in Ländern mit einer strukturell negativen Handelsbilanz wie den USA in Krisenjahren zurück, da ihre Importe stärker schrumpfen als ihre Exporte. Dies war in den USA im Jahr 2009 der Fall, nicht aber 2020. Ganz im Gegenteil: Im vergangenen Jahr wuchs das US-Handelsdefizit auf ein Rekordhoch von USD 900 Mrd an. Das Spiegelbild dazu ist Chinas Exportsektor, der normalerweise während Krisenzeiten unter einer geringeren Güternachfrage aus dem Westen ächzt. 2020 kletterte der Überschuss jedoch auf den höchsten Stand seit fünf Jahren. Der globale Warenfluss war bereits vor der Pandemie sehr einseitig ausgerichtet. In den letzten eineinhalb Jahren hat sich diese Entwicklung nochmals akzentuiert.

Sascha Jucker, Senior Economist bei der Zürcher Kantonalbank
Sascha Jucker, Senior Economist bei der Zürcher Kantonalbank (Bild: Zürcher Kantonalbank)

Verändertes Konsumverhalten

Diese Handelsflüsse und das regionale Ungleichgewicht widerspiegeln in erster Linie die veränderte Nachfrage aus den westlichen Industrieländern aufgrund der Pandemie. Die behördlichen Einschränkungsmassnahmen banden den Konsum in kontaktnahen Branchen (zum Beispiel Gastronomie, Hotellerie, Freizeitsektor) zurück. Gleichzeitig verhinderten grosse fiskalpolitische Stützungsmassnahmen wie Kurzarbeit flächendeckende Einkommenseinbussen, womit die Sparquote der Haushalte ein Rekordniveau erreichte. Diese Kombination führte zu einem erhöhten Konsum langlebiger Güter. So gewannen zum Beispiel Inneneinrichtung und -ausstattung während den Lockdowns an Bedeutung, was die Nachfrage nach Waren wie Möbeln und Haushaltsgeräten steigerte. Andererseits deckte sich die Bevölkerung im grossen Stil mit Heimelektronik ein, um ihrer Arbeit auch von zu Hause aus nachgehen zu können. Und in einigen Ländern wie den USA führten Ansteckungsängste zu mehr Individualverkehr, was sich in einer höheren Nachfrage nach Autos niederschlug. Die Verlagerung vom Dienstleistungs- zum Güterkonsum und die damit einhergehende Warenknappheit drückt sich auch in der jeweiligen Preisentwicklung der einzelnen Länder aus. So stieg die Inflation dort am kräftigsten an, wo sich das Konsumverhalten am stärksten verändert hat.

Ein Peitschenhieb, der Wellen schlägt

Zugegebenermassen scheint eine vierprozentige Verlagerung zu mehr Konsumgütern, wie sie zum Beispiel in den USA auftrat, auf den ersten Blick nicht sonderlich markant. Typischerweise haben aber Nachfrageänderungen am Ende der Wertschöpfungskette, also bei den Endverbrauchern, deutlich grössere Konsequenzen auf die Markteilnehmer im vorderen Bereich der Wertschöpfungskette als umgekehrt. Dieses Phänomen wird in der Logistik als «Bullwhip Effect» (deutsch: Peitscheneffekt) bezeichnet. Bereits zum Jahresbeginn haben einige Experten darauf hingewiesen, dass dadurch die globalen Transportkapazitäten im Zuge der konjunkturellen Normalisierung zu einem Flaschenhals werden könnten. Der Bullwhip-Effekt kommt durch unterschiedliche Ursachen zustande. So wird beispielsweise ein starker, aber einmaliger Nachfrageschub seitens der Konsumenten vom jeweilig vorgelagerten Händler, Zulieferer oder Produzenten fälschlicherweise als nachhaltig interpretiert, wodurch dieser seine Bestellmenge erhöht. Dieser Effekt verstärkt sich in entgegengesetzter Richtung entlang der Wertschöpfungskette. Dasselbe gilt bei Hamsterkäufen oder wenn Marktakteure starke Preissteigerungen bei ihren Zulieferern erwarten. Das Ergebnis des Bullwhip-Effekts lässt sich an verschiedensten Indikatoren ablesen: So beklagen aktuell die Mehrheit der Einkaufsmanager in den Industrieländern längere Lieferfristen als zum Tiefpunkt der Coronakrise im Frühling 2020. Am kalifornischen Zwillingshafen Long Beach und Los Angeles wartet zurzeit ein Dutzend Transportschiffe auf das Abladen ihrer Ware. In normalen Zeiten sind es ein bis zwei Frachter. Zudem verlassen viele dieser Schiffe den Hafen leer, weil ihre Kapazitäten in Asien dringender gebraucht werden und sich die leere Rückfahrt finanziell lohnt, solange die Transportpreise von Asien in den Westen auf den hohen Niveaus verharren. Die Lockdowns in China und anderen Teilen Asiens haben ihrerseits zu signifikanten Produktions- und Transportunterbrüchen geführt und die Situation erschwert.

Erste Lichtblicke auf der Angebotsseite

Wann genau sich die komplexe Situation auflöst, ist schwierig vorherzusagen. Angebotsseitig gibt es bereits vereinzelte Lichtblicke: So wurde die Schiffcontainerproduktion in China in den letzten Wochen rasant hochgefahren und hat jüngst historische Höchststände erreicht. In Südostasien hat sich die pandemische Lage deutlich beruhigt, womit sich die Produktionskapazitäten im Zuge der Lockerungsmassnahmen wieder normalisiert haben. Dem Chipmangel wird in den USA durch vermehrte Produktion im eigenen Land entgegengewirkt, und die Verstopfung an den kalifornischen Häfen hat ihren Höhepunkt bereits überschritten. Die weltweit bestehenden Baustellen sind allerdings zahlreich und es ist davon auszugehen, dass dieser Prozess des «Entwirrens» einige Zeit dauern wird, zumal sich alle Beteiligten in diesem globalen Gefüge den neuen Gegebenheiten anpassen müssen, bevor die Lieferketten wieder einwandfrei funktionieren. Oder anekdotisch gesprochen: Es nützt wenig, wenn die US-Häfen freie Kapazitäten haben, die Produkte in Asien verfügbar sind und die Frachter bereitstehen, solange es an Lkw-Fahrern mangelt, welche die Ware von den Häfen abtransportieren.

Nachfrage bleibt vorerst hoch

Nachfrageseitig gibt es aktuell nur wenige Anzeichen einer baldigen Besserung. Die behördlichen Restriktionen in Teilen Europas und die Unsicherheit über die neue Virusmutation Omikron und deren Auswirkungen auf das globale Pandemiegeschehen haben uns aufgezeigt, dass das Virus auch nach bald zwei Jahren unseren Alltag – und damit unser Konsumverhalten – mitbestimmt. Bis Ende Jahr ist aufgrund der saisonal hohen Weihnachtsverkäufe eine Entspannung sehr unwahrscheinlich. Viele Händler haben ihre Bestellungen in Asien aus Angst vor Lieferverzögerungen während des anstehenden chinesischen Neujahrsfestes auch für das Frühjahr 2022 bereits getätigt, was die Transportkapazitäten über die Jahreswende hinaus an ihre Grenzen bringen wird. Ab dem Frühling darf mit einer gewissen Entspannung gerechnet werden. Sie steht und fällt allerdings damit, ob sich bis dahin das Konsumverhalten in der westlichen Welt normalisiert hat. Aus Sicht der globalen Lieferengpässe dürfte eine deutliche Entspannung an der Preisfront also noch einige Monate auf sich warten lassen.

Lohn-Preis-Spirale dreht noch nicht

Dass die Preise für Rohstoffe und langlebige Konsumgüter allerdings nicht ewig auf diesen hohen Niveaus verharren werden, scheint plausibel. Und selbst wenn sie es täten, würden sie zumindest keinen zusätzlichen Inflationsdruck im nächsten Jahr ausüben. Eine anhaltend höhere Teuerungsrate bedingt eine Lohn-Preis-Spirale: Wenn Konsumenten flächendeckende Preiserhöhungen erwarten, werden sie auch einen entsprechende Lohnanpassung verlangen, um keinen Kaufkraftverlust zu erleiden. Höhere Lohnkosten erhöhen wiederum den Margendruck der Unternehmen, die sie durch eine Erhöhung ihrer Preise oder Dienstleistungen zu kompensieren versuchen. Hält diese Dynamik über längere Zeit an, kann die Inflation strukturell hoch bleiben. Aktuell sind die Zutaten für eine langfristig höhere Teuerung in vielen Industrieländern nur teilweise gegeben. So ist beispielsweise die Beschäftigungslücke, die steigende Lohnforderungen begünstigt, in den meisten Volkswirtschaften noch nicht geschlossen. Es gibt allerdings bereits Anzeichen von akutem Fachkräftemangel in verschiedenen Regionen. Sollten sich diese Engpässe in den nächsten Monaten verstärken, sind ein weiterer Anstieg der Nominallöhne und eine nachhaltig hohe Inflationsrate wahrscheinlich.

Geldpolitik mit Gratwanderung

Ein wichtiger Treiber für die Inflation von morgen sind die Inflationserwartungen von heute. Letztere waren in den entwickelten Ländern bis vor wenigen Monaten noch gut verankert, haben jüngst allerdings deutlich zugelegt. Dass diese Entwicklung nicht ausufert, ist denn auch das höchste Ziel der Geldpolitik. Die Währungshüter befinden sich aktuell auf einer Gratwanderung. Einerseits versuchen sie, die Inflationserwartungen unter Kontrolle zu halten, indem sie wiederholt hervorheben, dass die Lieferengpässe nur temporärer Natur sind und die Teuerung danach wieder abflachen wird. Zudem halten die Notenbanker berechtigterweise fest, dass sich die Lieferengpässe mit einer restriktiveren Geldpolitik nicht in Luft auflösen werden. Andererseits steigt mit anhaltenden Versorgungsengpässen, höheren Güter- und Rohstoffpreisen und der lockeren Haltung der Geldpolitik die Wahrscheinlichkeit, dass die Konsumenten die Inflation als längerfristiges Phänomen erachten und die Inflationserwartungen dadurch ihren Anker verlieren. Trotz eingeschränktem Handlungsspielraum ist Nichtstun für die Währungshüter also nicht unbedingt die beste Option.

Inflationsrisiken in beide Richtungen

Aktuell werden in erster Linie die Risiken einer anhaltend hohen Inflation diskutiert. Die Inflationsrisiken sind allerdings nicht nur nach oben gerichtet. Die aktuell starke Nachfrage nach langlebigen Gütern wird naturgemäss irgendwann abflachen und die gestiegenen Preise für Waren und Dienstleistungen die Kaufkraft der Konsumenten schmälern. Im schlimmsten Fall geschieht dies zu einem Zeitpunkt, wo die Zulieferer und Produzenten ihre Kapazitäten maximal ausgebaut und die Gross- und Detailhändler ihre Lager aufgestockt haben. Die Kombination aus einem Nachfragerückgang und einem Angebotsausbau würde sich dann stark deflationär auswirken. Dies stellt aktuell nicht unser Basisszenario dar. Wir sollten uns dieses Risikos jedoch zumindest bewusst sein.