Hat das BIP als Messgrösse ausgedient?
Die Aussagekraft des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beschränkt sich in der Regel darauf, Auskunft über die wirtschaftliche Aktivität eines Landes zu geben. Aussagen über die soziale Wohlfahrt eines Landes lassen sich damit kaum treffen. Weshalb wird das BIP immer noch so häufig im ökonomischen Kontext verwendet? Silke Humbert klärt auf.
Text: Silke Humbert
Ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ein geeignetes Mass für das Wohlergehen eines Landes? Nein, sagt der amerikanische Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz. «Wenn wir uns an etwas Falschem orientieren, werden wir auch etwas Falsches tun.» Hier ein einfaches Beispiel, um die Schwierigkeiten, die er mit der Kennzahl hat, zu verdeutlichen:
In einem kleinen Land leben 100 Menschen, von denen jede Person jährlich ein Brot backt. Auf dem Marktplatz wird das eigene Brot verkauft und ein anderes gekauft. Mehr wirtschaftliche Aktivität findet nicht statt. Das BIP umfasst den Wert aller Waren und Dienstleistungen, die in einem Jahr innerhalb der Landesgrenzen produziert und erbracht werden. Da ein Brot CHF 1 kostet, beträgt das BIP dieses Landes CHF 100 bzw. CHF 1 pro Kopf. Folgende Szenarien sind nun denkbar, die jedoch alle das BIP nicht verändern:
- Szenario 1: Nur die obersten 10% des Landes können sich den Kauf eines Brotes leisten. Die restlichen 90% müssen hungern.
- Szenario 2: Um die Backöfen zu befeuern, werden mit der Zeit alle Bäume im Land gefällt.
- Szenario 3: Das Land stellt von Holzbacköfen auf elektrische Öfen um. Die Luft wird dadurch sauberer und weniger Leute sterben an Atemwegserkrankungen.
Kennzahl in der Kritik
Obwohl sich die drei Szenarien inhaltlich klar unterscheiden, ändert sich das BIP nicht. Es beträgt weiterhin CHF 100 bzw. CHF 1 pro Kopf. Folglich sagt das BIP nur etwas über die Summe der hergestellten Güter aus, aber nichts über deren Verteilung, den Zustand der Umwelt oder darüber, wie glücklich oder gesund die Bevölkerung ist. Aus diesen Gründen steht die Kennzahl immer wieder in der Kritik.
Was das BIP nicht misst
Hat das BIP also ausgedient oder wurde seine Interpretation schlicht überstrapaziert? Vielleicht ist es ein guter Indikator für die wirtschaftliche Wohlfahrt und muss lediglich durch weitere Kennzahlen wie soziale Ungleichheit und nachhaltige Entwicklung ergänzt werden? Stiglitz und seinen Mitstreitern reicht das nicht. Sie postulieren, dass die wirtschaftliche Wohlfahrt eines Landes allein durch das BIP nicht angemessen ausgedrückt wird.
Vor der Finanzkrise 2008, die durch den Zusammenbruch des US-Häusermarktes ausgelöst wurde, wies das amerikanische BIP zum Beispiel hohe Wachstumsraten auf. Dabei war es gerade die Immobilienmarktblase, die dazu geführt hat, dass Firmen und Haushalte so viel konsumierten und investierten, so die Ökonominnen und Ökonomen. Das BIP unterscheidet nicht, ob Investition oder Konsum auf einer Blase aufbauen, und kann somit keinerlei Hinweise auf Fehlentwicklungen geben. Demgegenüber überschätze das BIP in Krisenzeiten die ökonomische Wohlfahrt eines Landes, weil es den Verlust an ökonomischem, Human- und Sozialkapital nicht vollständig darstellt. Ein Beispiel hierfür sei der Vertrauensverlust in Institutionen, der oft nach Finanzkrisen entsteht.
Das BIP misst wirtschaftliche Aktivität
Die Ökonominnen und Ökonomen engen die Aussagekraft des Bruttoinlandsprodukts daher insoweit ein, dass es nur über die wirtschaftliche Aktivität Auskunft gibt, nicht aber über die wirtschaftliche oder gar gesellschaftliche Wohlfahrt eines Landes. Warum wird das BIP trotzdem immer noch so häufig benutzt? Für Konjunkturanalysen braucht man Werte zur wirtschaftlichen Aktivität. In diesem Kontext ist das BIP genau so, wie es definiert ist, also gefragt. Dass es vielfach auch darüber hinaus herangezogen wird, hat damit zu tun, dass es für wirtschaftliche und gesellschaftliche Wohlfahrt keine allgemein akzeptierte Definition gibt. Und auch wenn es diese noch nicht gibt, so ist doch jetzt schon klar, dass wirtschaftliche und gesellschaftliche Wohlfahrt mit dem BIP korrelieren. Als Näherungswert wird es daher oft genutzt. Es gibt jedoch neben Verteilung, Umwelt und gesellschaftlichem Wohlbefinden auch viele ökonomische Aspekte, über die das BIP keine Auskunft geben kann. Wer sich am BIP orientiert, sollte also dessen Definition und Aussagekraft gut kennen. Wir wollen schliesslich nicht, dass wir uns, wie Stiglitz es formuliert, an «etwas Falschem» orientieren.