Indien: Wie steht es um die zukünftige Wirt­schafts­weltmacht?

Fast eine Milliarde stimmberechtigte Bürgerinnen und Bürger waren in der grössten Demokratie der Welt an die Urnen gerufen worden. Doch nicht nur wegen der Wahlen, sondern auch wegen des starken Wirtschaftswachstums rückt Indien immer mehr in den Fokus der Medien. Woher kommt das starke Wirtschaftswachstum der letzten Jahre und welche Chancen und Potenziale befeuern die Erwartungen an die zukünftige Wirtschaftsweltmacht?

Text: Kevin Gismondi

«Die Perspektiven für die indische Wirtschaft sind vielversprechend. Fundamentale Schwächen haben jedoch die Entfaltung des vollen Potenzials bislang verhindert.», erklärt Kevin Gismondi. (Bild: Andreas Guntli)

Fast eine Milliarde stimmberechtigte Bürgerinnen und Bürger waren in der grössten Demokratie der Welt an die Urnen gerufen worden. Aufgrund des hohen logistischen Aufwands wurden die Marathon-Parlamentswahlen in Indien in mehreren Etappen abgehalten. Bei den jeweils im 5-Jahrestakt abgehaltenen Parlamentswahlen wurden die 543 Abgeordneten im Unterhaus des Parlaments - dem sogenannten «Lok Sabha» - sowie Regionalparlamente in vier Teilstaaten neu gewählt. Doch nicht nur aufgrund der Wahlen, sondern auch wegen des starken Wirtschaftswachstums bekommt Indien immer mehr mediale Aufmerksamkeit. Woher kommt das starke Wirtschaftswachstum der letzten Jahre und welche Chancen und Potenziale befeuern die Erwartungen an die zukünftige Wirtschaftsweltmacht? Mit welchen strukturellen Herausforderungen hat das bevölkerungsreichste Land der Welt trotz rekordhohem Wachstum zu kämpfen? Sind die Erwartungen an Indien übertrieben? Diese Fragen versuchen Experten der Zürcher Kantonalbank im Folgenden zu beantworten.

Die Wahlen

Indiens Mehrparteiensystem ist hochkomplex: Mit über 2600 registrierten politischen Parteien könnte die Parteienvielfalt kaum grösser sein. Die Parteien lassen sich grob in drei Hauptgruppen unterteilen. Seit 2014 ist die stärkste Kraft in Indien die rechts-nationalistische «Nationale Demokratische Allianz» (NDA). Sie setzt sich aus der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) und ihren wichtigsten Verbündeten zusammen. Grösster Herausforderer ist die neu gegründete Gruppierung «Indian National Developmental Inclusive Alliance» (I.N.D.I.A.). Das linksgerichtete heterogene Parteienbündnis agiert unter der Führung der Indischen Kongresspartei (INC) und vereint verschiedene Oppositionsparteien. Daneben gibt es noch zahlreiche andere Parteien, darunter wichtige regionale Schwergewichte.

Geschwächter Modi 3.0

Die von der BJP geführte hindu-nationalistische Koalition sicherte sich bei den jüngsten Wahlen die dritte Legislaturperiode in Folge. Mit 293 gewählten Abgeordneten liegt das amtierende Wahlbündnis knapp über der einfachen Mehrheit von 272 Sitzen. Narendra Modi ist damit erst der zweite Regierungschef in der Geschichte Indiens, der eine dritte Amtszeit antritt. Dennoch ist das Ergebnis eine Enttäuschung, denn der 73-Jährige hatte vor der Wahl die Ziele hochgesteckt. Von der angepeilten Zweidrittelsmehrheit, welche sogar Verfassungsänderungen erlaubt hätte, ist die NDA nun weiter entfernt als zuvor. Der von den Wahlumfragen prophezeite Erdrutschsieg traf nicht ein. Modis Partei verlor Dutzende Sitze im Parlament und schnitt weit schlechter ab als erwartet. Die BJP gewann 240 Sitze und liegt damit weit unter ihren 303 Sitzen von 2019 (siehe Grafik). Noch viel wichtiger: Sie verliert die Einparteienmehrheit im Parlament, welche sie seit 2014 innehatte. Um regieren zu können, ist die BJP künftig also stärker auf ihre Verbündeten angewiesen. Modis Position ist damit geschwächt.

(Quellen: Zürcher Kantonalbank, Election Commission of India)

Denkzettel für Modi

Die Euphorie um die Person Modis scheint also etwas abgeebbt zu haben. Die Selbstverständlichkeit, mit der Modi den erneuten Wahlsieg ankündigt hatte, könnte dazu beigetragen haben, dass einige Wähler nicht von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht haben. Viel eher aber deutet das Ergebnis darauf hin, dass die Wähler Modis den knallhart geführten und spaltenden Wahlkampf entlang religiöser Linien, die nationalistische Agenda seiner Partei und seine Äusserungen gegen die muslimische Minderheit nicht

gutgeheissen haben. Muslime in Indien beklagen bereits seit langem eine Diskriminierung durch die Politik, doch zuletzt hatte Modi den Ton nochmals deutlich verschärft. Wahlkampfeingriffe wie das Einfrieren von Bankkonten oder die Diffamierung, Verhaftung und Disqualifizierung von Kandidaten der Oppositionsparteien waren erschreckend. Und auch die innenpolitische Tendenz zur Einschränkung der Meinungsfreiheit sowie Übergriffe auf Journalisten stimmten nachdenklich. Trotz Benachteiligung im Wahlkampf war für die Oppositionsallianz unter Führung der Kongresspartei von Rahul Gandhi die Wahl ein voller Erfolg. Im Vorfeld der Wahlen deuteten Umfragen auf die Unzufriedenheit der Wähler mit Themen wie Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und Armut hin. Gut möglich, dass die populistischeren Wahlversprechen der Kongresspartei in Bezug auf Einkommenstransfers an die Armen und die Aussicht auf mehr Arbeitsplätze bei den Wählern besser ankamen.

Neue Regierung, altes Kabinett

Obwohl die Koalitionspartner neu eine grössere Verhandlungsmacht besitzen, ist die Beibehaltung der alten Garde in den Kernministerien ein Zeichen für die Kontinuität der Wirtschaftspolitik. 25 der 30 Minister des Kabinetts sind gegenüber der Vorgängerregierung unverändert. Damit konnte die BJP die ehrgeizigen Forderungen ihrer Verbündeten nach einer Aufteilung der Ministerposten erfolgreich abwehren.

Zeit der Reformen vorbei?

Dennoch dürfte eine schwächere Koalitionsregierung es Modi schwerer machen, harte und umstrittene Wirtschaftsreformen durchzusetzen und seine hindu-nationalistische Agenda voranzutreiben. Denn viele der BJP-Bündnispartner teilen nicht alle Ansichten, die Kern der BJP-Agenda sind. Angesichts der gestärkten Opposition dürfte die Regierung bei umstrittenen Sozialreformen wie etwa der Reform des Zivilrechts oder der Neuziehung der Wahlkreise einen vorsichtigeren Kurs wählen. Auch heikle Reformen in Bezug auf den Landerwerb, die Flexibilisierung der Arbeitsgesetze sowie jegliche Einschränkung der Meinungsfreiheit dürften künftig einen schwereren Stand haben. Der Ausblick für tiefgreifende Gesetzesänderungen hat sich somit verschlechtert. Nichtsdestotrotz dürfte die Koalitionsregierung in beiden Häusern des Parlaments stark genug sein, um weitere Reformen zu verabschieden. Denn im Vergleich zu den letzten fünf Jahren hat die BJP-geführte Allianz eine stärkere Position im Oberhaus des Parlaments.

Fazit

Modis Regierung ist zwar geschwächt, behält aber die absolute Mehrheit im Parlament. Die Durchsetzung umstrittener Reformen wird dennoch schwieriger. Die breite Akzeptanz von Wirtschaftsreformen im gesamten politischen Spektrum bedeutet jedoch, dass die neue Regierung trotz geschwächtem Mandat Reformen weiter vorantreiben wird und insgesamt reibungslos funktionieren dürfte. Politische Kontinuität heisst wahrscheinlich, dass der Schwerpunkt der Reformagenda weiter auf Themen wie Haushaltskonsolidierung, Infrastrukturausgaben, Wertschöpfungsketten im verarbeitenden Gewerbe, Urbanisierung, Schaffung von Arbeitsplätzen und Steuerreformen gelegt wird.

Die Grösse

Der Enthusiasmus für Indien als zukünftiger globaler Wachstumsmotor hat zugenommen. Dies kommt nicht von ungefähr. So sorgte die südasiatische Wirtschaftsmacht im letzten Jahr mit Jahreswachstumsraten von über 8 Prozent für Furore. Seit 2022 ist Indien die fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt und überholte damit die ehemalige Kolonialmacht Grossbritannien. Mit regelmässigen Wachstumsraten von über 6 Prozent ist es nur eine Frage der Zeit, bis Indien das Podest erklimmt. Laut Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird Indien noch vor Ende des Jahrzehnts Japan und Deutschland überholen und sich hinter den USA und China als drittgrösste Volkswirtschaft der Welt einreihen (siehe Grafik). Woher kommt dieses starke Wachstum?

(Quellen: Zürcher Kantonalbank, Internationaler Währungsfonds)

Das Wachstum

Im letzten Jahrzehnt wurden wichtige Reformen angestossen. Dazu gehören unter anderem die Revision von Arbeitsbestimmungen, die Vereinfachung der Steuerverwaltung sowie die Vereinheitlichung der Mehrwertsteuer. Unter der Modi-Regierung machte Indien ausserdem grosse Fortschritte bei der Digitalisierung der Wirtschaft. Dies erhöhte sowohl den Zugang der breiten Bevölkerung zu Finanzdienstleistungen als auch die Produktivität. Aus regulatorischer Sicht waren vor allem das umfangreiche Rekapitalisierungspaket für Banken und ein neues Konkursgesetz wichtig. Zusammen haben die neuen Regelwerke dazu beigetragen, den angeschlagenen Bankensektor wieder auf die Beine zu bringen und die Wirtschaftsaussichten zu verbessern.

Staatliche Investitionsoffensive

Verwendungsseitig haben in den letzten Jahren der Privatkonsum und die Investitionen den grössten Teil zum Wirtschaftswachstum beigesteuert. Der Investitionsanstieg widerspiegelt unter anderem die beträchtliche Erhöhung der öffentlichen Ausgaben. Unter Modis Regierung haben sich die Gesamtinvestitionen in die Infrastruktur gemessen in Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den letzten Jahren nahezu verdoppelt. So wurde zum einen viel Geld für die Modernisierung und den Ausbau des Strassen- und Schienennetzes sowie für neue Flughäfen und Hochgeschwindigkeitszüge aufgewendet. Daneben fördert Modi den Kapazitätsausbau im Bereich erneuerbare Energien, verbessert die Qualität von Bewässerungsanlagen und treibt die Digitalisierung voran. Der vorläufige Budgetentwurf für das kommende Fiskaljahr deutet auf eine Fortsetzung der Investitionsoffensive hin. Trotz Konsolidierung des Fiskaldefizits dürften die staatlichen Infrastrukturinvestitionen um rund 11 Prozent gegenüber dem letzten Fiskaljahr ansteigen.

Diversifizierung der globalen Lieferketten

Die indische Wirtschaft hat in den vergangenen Jahren stark vom «Friendshoring» profitiert: Industrielle Grossmächte wollen ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von China aus Sicherheitsüberlegungen zunehmend verringern. In einer Phase, in der Unternehmen stärker um die Diversifizierung ihrer Lieferketten bemüht sind, wird Indien als Produktionsstandort zumindest verstärkt geprüft. Im Rahmen der «Make in India»-Initiative versucht das Land zudem ausländische Hersteller, unter anderem mit Subventionen, vom Produktionsstandort Indien zu überzeugen. Die Grösse des indischen Marktes macht das Land nämlich auch als Absatzmarkt attraktiv. Gewisse Konzerne verlagerten bereits einen Teil ihrer Produktionskapazitäten nach Indien. In der Elektronikbranche gibt es erste Erfolge: Ein prominentes Beispiel ist Apple, das mittlerweile über zehn Prozent der weltweiten iPhone-Produktion in Indien herstellt.

Aussenpolitik geht neue Wege

Indien braucht ausländische Investitionen. Dies schlägt sich neu auch in der Aussenwirtschaftspolitik des Landes nieder. Indien verhandelt derzeit Freihandelsabkommen mit mehreren Ländern. Während man sich mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Australien und den EFTA-Staaten (inkl. Schweiz) bereits erfolgreich einigen konnte, sind die Verhandlungen mit der Europäischen Union und Grossbritannien noch im Gange. Oft, wie im Falle der EFTA-Länder, beinhalten die Abkommen für die Gegenparteien umfangreiche Investitionsversprechen.

Schrittweise Öffnung der Wirtschaft

Ausserdem sind die Beschränkungen für ausländische Direktinvestitionen in diversen Sektoren gelockert worden. Und auch die indischen Finanzmärkte werden immer offener. Die Obergrenzen für ausländische Beteiligungen an Staats- und Unternehmensanleihen wurden in den letzten Jahren schrittweise angehoben. In diesem Zusammenhang erreichte die indische Regierung mit der Aufnahme ihrer Lokalwährungsanleihen in den GBI-EM Global Diversified Index von JPMorgan im Juni einen wichtigen Meilenstein. Um die Zuflüsse ausländischen Kapitals in den lokalen Anleihenmarkt anzukurbeln, war dies seit 2019 ein ausdrückliches politisches Ziel.

Die Sektoren

Nach dem Produktionsansatz ist insbesondere die Wertschöpfung im Tertiärsektor bedeutend. Rund die Hälfte des BIP entfällt auf die Dienstleistungsbranche. Besonders erfolgreich ist der exportorientierte Dienstleistungssektor: Firmen um den ganzen Globus haben Geschäftsprozesse im vergangenen Jahrzehnt nach Indien ausgelagert. Rund ein Viertel der Exporte fällt auf diesen spezialisierten Sektor, der durch die Automatisierung zunehmend bedroht wird. Neben der traditionellen Stärke des IT-Dienstleistungssektors, welche unter anderem auf englischsprachige Technologietalente und Kostenvorteile zurückzuführen ist, entwickelt sich Indien auch zu einem beliebten Ziel für Offshore-Einheiten von multinationalen Unternehmen.

Die Bedeutung des Industriesektors fällt hingegen deutlich nüchterner aus. Insbesondere das verarbeitende Gewerbe (Industrie exkl. Baugewerbe) macht derzeit nur etwa 17 Prozent der Bruttowertschöpfung aus. Viele asiatische Volkswirtschaften, die den Status eines Landes mit niedrigem Einkommen erfolgreich hinter sich gelassen haben, bauten zunächst einen florierenden Produktionssektor auf. Im Gegensatz dazu hat der Industriesektor einen relativ geringen Anteil an Indiens Wirtschaft. Neben dem fehlenden Industriewissen sind die Probleme vielfältig.

Marode Infrastruktur

Trotz zahlreicher Infrastrukturinvestitionen in den vergangenen Jahren bleibt das Aufholpotenzial gross. Es fehlt in der Breite nach wie vor an einer ausreichend ausgebauten Infrastruktur, auch wenn die Zentralregierung sich verstärkt um Transportwege und Stromkapazitäten bemüht. Der Ausbau ist eine Grundvoraussetzung, um die industrielle Entwicklung voranzutreiben.

Schlechte Bildungsqualität

Weniger investiert hat die Modi-Regierung in die Bildung. In Indien ist der Mangel an gut ausgebildeten Arbeitskräften gross. Während Indiens riesige junge Bevölkerung enorm viel Potenzial verspricht, verfügt ein Grossteil des Humankapitals nicht über die für hochqualifizierte Arbeitsplätze erforderliche Ausbildung. Zwar hat Indien mit über 50’000 Institutionen das grösste Hochschulsystem der Welt. Doch die Bildungsstätten sind überfüllt, Kontrollinstanzen überfordert und die Bildungsqualität schlecht. Trotz einigen Top-Universitäten ist das Qualitätsgefälle zwischen den Schulen gross und kritisches Denken wird kaum geschult. Die Verbesserung des Bildungsniveaus ist ein wichtiger Pfeiler, um einen wettbewerbsfähigen Industriesektor aufzubauen. Derzeit absorbiert vor allem der erfolgreiche Tertiärsektor die gut ausgebildeten Arbeitskräfte.

Restriktives Geschäftsklima

Die durchgeführten Reformen haben zwar dazu beigetragen, dass man in Indien seine Geschäfte einfacher abwickeln kann. Im mittlerweile eingestellten «Ease of doing Business»-Ranking der Weltbank kletterte Indien seit Modis Amtsantritt von Platz 142 (2014) auf Platz 62 (2019). Doch dies soll nicht über den weiteren, zwingend notwendigen Reformbedarf hinwegtäuschen. Denn die Bürokratie bleibt weiterhin ein Bremsklotz für unternehmerische Aktivitäten in Indien. Die Importzölle in Indien sind hoch und die Einfuhrbestimmungen komplex. Immerhin ermöglichen die jüngsten Freihandelsabkommen den indischen Herstellern vereinzelt billigere Vorleistungsgüter. Doch auch das aus der britischen Kolonialzeit stammende indische Arbeitsrecht ist wenig förderlich. Insbesondere grössere Unternehmen mit mehr als 300 Beschäftigten unterliegen nach wie vor unflexiblen Arbeitsmarktgesetzen, die einen weitgehenden Kündigungsschutz vorschreiben. Unternehmenswachstum ist für Kleinbetriebe entsprechend unattraktiv. Das komplexe Regelwerk schreckt ausländische Investoren ab. Zudem ist es für viele Firmen wichtig, ein gutes Netz an Zulieferern um sich zu haben. Dieses Netz gibt es in vielen Branchen in Indien nicht in ausreichender Qualität. Damit bleibt Indien als Produktionsstandort schwierig.

Übermächtige Landwirtschaft

Auch beim Landerwerb gibt es erhebliche Beschränkungen. Die Landrechte sind noch immer rigide und die Umnutzung von Agrarland ein politisch heikles Thema. Die bestehenden Bodengesetze erschweren deshalb die Ansiedlung von neuen industriellen Produktionsstätten. Die von der Regierung vorgeschlagene Einrichtung von autonomen Sonderwirtschaftszonen mit gelockerten arbeitsrechtlichen Bestimmungen gehen sicherlich in die richtige Richtung. Auf diesem Land könnten dann Produktionsanlagen leichter errichtet werden. Die Umsetzung wichtiger Reformen im Agrarsektor dürfte mit der geschwächten Koalitionsregierung in den nächsten Jahren nicht einfacher werden. Denn die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und die Modernisierung der Landrechte sind insbesondere in der Landwirtschaft umstritten. Mit 17 Prozent der Bruttowertschöpfung ist der Primärsektor in Indien wichtiger als anderswo. Die Mehrheit der indischen Bevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft und bindet damit unnötig viele Ressourcen, die im sekundären Sektor gebraucht würden.

Die Demografie

Dass Indien es bislang nicht geschafft hat, eine arbeitsintensive Industrie aufzubauen, stellt für viele junge Arbeitskräfte ein ernsthaftes Problem dar. Laut Schätzungen der Vereinten Nationen beheimatet Indien seit April 2023 mehr als 1,4 Milliarden Menschen. Dies macht Indien zum bevölkerungsreichsten Land der Welt. Die genaue Bevölkerungszahl ist unbekannt, da Indien seit 2011 keine offizielle Volkszählung mehr durchgeführt hat. Doch im Gegensatz zu vielen Industrieländern wächst Indiens Population weiter und sie ist jung - das Medianalter liegt unter 30 Jahren. Indiens junge und wachsende Bevölkerung wird deshalb gerne die «demografische Dividende» genannt. Sie verschafft dem Land eine vorteilhafte Position gegenüber den meisten anderen Volkswirtschaften, welche mit den Herausforderungen der Überalterung konfrontiert sind. In Indien befinden sich fast eine Milliarde Menschen im erwerbsfähigen Alter, Tendenz steigend. Das junge und arbeitswillige Volk stellt unbestritten Indiens grösstes Potenzial dar. Das Zeitfenster für ein beschleunigtes Wachstum ist damit günstig.

Demografischer Segen oder demografischer Fluch?

Eine grosse Bevölkerung allein bedeutet jedoch wenig für die wirtschaftliche Entwicklung. So strömen jeden Monat Hunderttausende junge Leute auf den indischen Arbeitsmarkt. Dieser ist jedoch nicht in der Lage, sie alle zu absorbieren. Der neuste Beschäftigungsbericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zeigt denn auch, dass über 80 Prozent von Indiens Arbeitslosen junge Menschen sind. Auch die Arbeitslosigkeit bei gebildeten Jugendlichen ist hoch, was auf eine grosse Diskrepanz zwischen ihren Wünschen und den verfügbaren Arbeitsplätzen hinweist. Der Anteil der Jugendlichen mit Sekundär oder Hochschulbildungsabschluss an der Gesamtzahl der arbeitslosen Jugendlichen hat sich von 35 Prozent im Jahr 2000 auf 65 Prozent im Jahr 2022 fast verdoppelt. Während die nichtlandwirtschaftliche Beschäftigung in den letzten Jahren zwar langsam, aber stetig anstieg, hat sich dieser Trend gemäss ILO-Bericht seit der Pandemie wieder umgekehrt. Da die Jugendlichen in den Städten keine Arbeit im Industrie- und Dienstleistungssektor fanden, kehrten viele von ihnen wider Willen in die Landwirtschaft zurück.

Der Arbeitsmarkt

Trotz des erfolgreichen Dienstleistungssektors ist fast die Hälfte der Inderinnen und Inder in der Landwirtschaft beschäftigt. Als Folge der stark fragmentierten Unternehmenslandschaft ist jedoch auch ein grosser Teil der Bevölkerung im niedrigqualifizierten und informellen Sektor tätig. Gemäss Schätzungen sind zwischen 80 und 90 Prozent der Erwerbstätigen informell beschäftigt. Dieser Anteil ist im internationalen Vergleich extrem hoch. Die Beschäftigung besteht damit überwiegend aus selbstständiger Arbeit und Gelegenheitsarbeit.

Tiefe Erwerbsquote

Die Erwerbsquote ist mit rund 55 Prozent tief. Anders ausgedrückt: Nur etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter arbeitet tatsächlich oder sucht Arbeit. Eine zentrale Herausforderung ist die mangelnde Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt. Mit rund 25 Prozent hat Indien eine der niedrigsten Frauenerwerbsquoten der Welt. Damit fällt Indien sogar hinter Länder wie Pakistan oder Saudiarabien zurück.

Schaffung von Arbeitsplätzen entscheidend

Der Schlüssel für die Ausschöpfung des demografischen Potenzials Indiens ist somit die Entwicklung eines weltweit wettbewerbsfähigen, arbeitsintensiven Produktionssektors. Die Ausweitung des verarbeitenden Gewerbes hätte den doppelten Vorteil, einerseits die Produktivität zu steigern und andererseits Millionen von erwerbsfähigen Erwachsenen - insbesondere Frauen - in die formelle Arbeit zu bringen. Denn Indien schafft es trotz hohem Wirtschaftswachstum bislang nicht, für seine junge Bevölkerung genug Arbeitsplätze zu schaffen. Indien wächst, aber nicht alle profitieren davon.

Die Ungleichheit

Das BIP pro Kopf hat sich seit 1980 mehr als verfünffacht und konnte vor allem in den letzten 20 Jahren an Dynamik gewinnen. Gleichzeitig wurde die extreme Armut in Indien reduziert. Waren es Anfang des Jahrtausends noch rund 400 Millionen, sind es laut neuesten Schätzungen der Weltbank noch etwas mehr als 150 Millionen Menschen, die mit knapp zwei Dollar oder weniger pro Tag auskommen müssen. Trotzdem zählt Indien immer noch zu den ärmeren Ländern der Welt. Gemäss Daten der Weltbank verbleiben mehr als 40 Prozent der indischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze von 3,65 Dollar und nur 7 Prozent aller Inderinnen und Inder verdienen mehr als 10 Dollar pro Tag.

Ungleichheit wächst

Indiens Wachstum ist jedoch sehr ungleich verteilt. Die Wohlstandsgewinne haben längst nicht alle Inderinnen und Inder erreicht, weshalb sich die Ungleichheit zwischen den ärmeren und reicheren Bevölkerungsgruppen in der jüngsten Vergangenheit sogar noch zugespitzt hat. Im Jahr 2022 wurde ein neuer Höchststand erreicht: Über 22 Prozent des gesamten Nationaleinkommens ging an das reichste Prozent der Bevölkerung. Der Anteil der Top 1 Prozent liegt damit fast zehn Prozentpunkte höher als jener der ärmeren Hälfte der Bevölkerung. Damit gehören die Einkommens- aber auch die Vermögensungleichheiten in Indien zu den höchsten der Welt. Sie sind heute schlimmer als unter der britischen Kolonialherrschaft und extremer als in Brasilien, Südafrika oder den USA. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die grosse Mehrheit der 1,4 Milliarden Einwohner arm ist. Da in Indien keine breite kaufkräftige Mittelschicht existiert, könnte es in Zukunft schwierig werden, den inländischen Konsum anzukurbeln. Denn dafür fehlen den meisten Haushalten schlichtweg die Mittel.

Fazit

Zu den Chancen Indiens zählen unter anderem die politische Stabilität, eine junge und wachsende Erwerbsbevölkerung und eine verstärkte Präsenz auf der Weltbühne, welche den Wissenstransfer fördert. Mittelfristige Wachstumstreiber werden angeführt vom weiteren Ausbau der Infrastruktur, der Verlagerung von globalen Lieferketten sowie produktivitätssteigernden Reformen wie der Digitalisierung. Die Voraussetzungen für ein höheres Potenzialwachstum scheinen also gegeben. Die ambivalente Betrachtung der strukturellen Potenziale und Herausforderungen zeigt jedoch, dass Indien noch einige Baustellen zu bearbeiten hat. Angesichts dieser fundamentalen Schwächen dürften langfristige Wachstumsraten von deutlich über 7 Prozent nur schwierig zu erreichen sein. Schnelleres Wachstum und eine erhöhte Reformdynamik wären jedoch zur Schaffung der benötigten Arbeitsplätze wichtig.

Zweifellos wird Indien geopolitisch und wirtschaftlich eine immer wichtigere Rolle auf der Weltbühne übernehmen. Ob Indien dabei aber gleich zum Motor der Weltwirtschaft aufsteigt - dafür gibt es berechtigte Zweifel. Modis Ziel ist klar: 2047 und damit 100 Jahre nach der Erlangung der Unabhängigkeit von Grossbritannien soll Indien ein Industrieland sein. Nach zwei Amtszeiten fällt seine wirtschaftliche Bilanz jedoch durchwachsen aus. In dieser Hinsicht kann das Wahlergebnis durchaus als Auftrag des Volkes interpretiert werden, sich mehr auf die sozialen Probleme des Landes zu konzentrieren.

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