Vom Sündenbock zum Muster­schüler?

Viele Firmen verfolgen eine «Net Zero-Strategie», sprich Netto Null bei den CO2-Emissionen bis ins Jahr 2050. Es ist eine grosse Herausforderung, dies eindeutig quantitativ messen zu können. Nachhaltigkeitsökonomin Silke Humbert fühlt dem Thema auf den Zahn.

Text: Silke Humbert

«Was es braucht, ist eine verbindliche Anwendung von Net-Zero-Zielen für alle Unternehmen», sagt Silke Humbert. (Bild: unsplash)

«What gets measured, gets done» lautet ein amerikanisches Sprichwort, das dem Ökonomen Peter Drucker zugeschrieben wird. Es besagt, dass Ziele, an denen man gemessen wird, mit grösserer Ernsthaftigkeit verfolgt werden. Ist das Ziel zudem eindeutig quantitativ oder qualitativ messbar, gibt es bei der Erreichung keinen Interpretationsspielraum, es herrscht Transparenz.

Auch in der Unternehmenswelt ist man bemüht, die vielen blumigen Bekenntnisse zur Nachhaltigkeit quantitativ messbar zu machen. In puncto Klimaschutz ist «Net Zero», sprich Netto Null bei den CO2-Emissionen, der Plan der Stunde. Ein Drittel aller Firmen verfolgt Net-Zero-Pläne, möchte also ab dem Jahr 2050 in der Summe keine Treibhausgasemissionen mehr ausstossen.

Sogar die grossen Öl- und Gaskonzerne wie Shell und BP haben sich diese Ziele gesetzt. Beide können dabei schon beträchtliche Fortschritte vorweisen: BP hat schon 2021 das Reduktionsziel erreicht, das die Firma eigentlich für 2025 angepeilt hat. Das Sprichwort, dass erledigt wird, was letztlich auch gemessen wird, scheint also zuzutreffen. Alles gut also?

Der Teufel steckt im Detail

Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, ein deutsches Sprichwort ins Spiel zu bringen: «Der Teufel steckt im Detail!» Die Frage stellt sich nämlich, wie diese CO2-Reduktionen zustande gekommen sind. Der Grossteil der während der letzten drei Jahre bei Shell und BP erzielten CO2-Reduktionen beruht nicht auf Verringerungen der Emissionen im operativen Geschäft, sondern auf Verkäufen eines Teils des CO2-intensiven Geschäfts, also auf sogenannten «Divestments». Für Shell und BP sind solche Verkäufe essenziell, um Net-Zero-Ziele zu erreichen, und daher eine gute Sache.

Und für das Klima?

Das hängt stark davon ab, an wen diese Unternehmensteile verkauft werden – im Fall von BP und Shell an Privatfirmen. Und das ist ein Problem. Denn während börsennotierte Firmen hohen Anforderungen bezüglich Transparenz genügen müssen und dem Druck von Investorinnen und Investoren und der öffentlichen Meinung ausgesetzt sind, ist das bei Privatunternehmen nicht der Fall. Höchstwahrscheinlich werden die neuen Eigentümer kaum nach ihrem CO2-Ausstoss gefragt. Das birgt keinen Anreiz, Emissionen tief zu halten – im Gegenteil. Für das Klima ist das also leider keine gute Sache.

Ist das ein Einzelfall? Nein, vermuten die Autoren eines kürzlich erschienen Arbeitspapiers. Generell gibt es im CO2-intensiven Bereich mehr Verkäufe börsennotierter Firmen an privat geführte Firmen als umgekehrt, sagen die Autoren Gözlügöl und Ringe1, bei denen ein ungutes Gefühl zurückbleibt. Ziel muss es schliesslich sein, die Emissionen global zu reduzieren und nicht, schöne Berichte von den im Rampenlicht stehenden Unternehmen zu erhalten.

Das Kind mit dem Bade ausschütten?

Ist es also falsch, Druck auf Firmen auszuüben, damit sie ihre CO2-Emissionen reduzieren und infolgedessen Net-Zero-Zusagen machen? Nein, denn «What gets measured gets done» hat immer noch seine Berechtigung. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass nur ein Bruchteil der Firmen börsenkotiert ist. In der Schweiz sind zum Beispiel weniger als 0,1 Prozent aller Firmen börsennotiert. Die Schlupflöcher, die bei einem Fokus auf börsengelistete Firmen entstehen, sind riesig. Gleichzeitig sollte die Metrik erweitert werden. Es zählt nicht nur, ob Net Zero erreicht wird, sondern auch wie. BP und Shell sind diesbezüglich immerhin transparent: Divestments werden klar in der Strategie für die Erreichung der Net-Zero-Ziele aufgeführt. Net-Zero-Pläne gänzlich abzuschaffen wäre übereifrig. Damit würde man, um ein drittes Sprichwort zu bemühen, das Kind mit dem Bade ausschütten. Was es braucht, ist eine verbindliche Anwendung von Net-Zero-Zielen für alle Unternehmen oder die Vorgabe, diese Ziele ohne Divestments zu erreichen.

 

1 Alperen Gözlügöl und Wolf-Georg Ringe. April 2023. Net-Zero Transition and Divestment of Carbon-Intensive Assets. European Center for Corporate Governance.