Das Nervensystem der Dekarbonisierung
Die Strompreise in der Schweiz steigen weiter und Fakt ist, dass die Elektrifizierung unseres Systems die Anforderungen an die Stromnetze markant erhöht. Demzufolge steht ein umfassender Aus- und Umbau an. Welche Anlagechancen dies bietet, lesen Sie im Beitrag von Anlagespezialist Jens Schweizer.
Text: Jens Schweizer
Haben Sie es bereits erfahren oder verdrängen Sie es bewusst? Die Strompreise in der Schweiz steigen weiter. Anfang September 2023 publizierte die Eidgenössische Elektrizitätskommission (ELCom) die von den über 600 Schweizer Stromversorgern gemeldeten Preise für die Grundversorgung 2024. Auch wenn man sich schon an die allgegenwärtige Inflation und Gierflation gewöhnt hat, fühlt das sich wie ein Griff an den (solarbetriebenen) Elektroweidezaun an.
Im Mittel steigen die Preise um 18 Prozent, mit grossen regionalen Unterschieden. Ein Vierpersonenhaushalt im Kanton Zürich zahlt pro Kilowattstunde Strom sogar über 40% mehr als heute, was einem Anstieg von über 76 Prozent seit Beginn der Turbulenzen am Strommarkt im Jahr 2021 entspricht.
Die Gründe für den anhaltenden Preisanstieg sind vielfältig. In der Schweiz schlagen neben der prophylaktischen Finanzierung einer Winterreserve die strukturell gestiegenen Marktpreise 2024 voll auf den Energietarif durch. Im Kern sind dies aber nur Begleiterscheinungen einer tiefergreifenden Veränderung: der Elektrifizierung unseres Systems. Im Zuge der Dekarbonisierung steigt die Nachfrage nach elektrischer Energie stark. Laut Schätzungen der Internationalen Energieagentur (IEA) wird der weltweite Stromverbrauch zwischen 2021 und 2030 um ganze 25 Prozent klettern.
Gleichzeitig steht die Bedienung dieser Nachfrage durch erneuerbare Quellen vor grossen Herausforderungen. Die aktuellen Diskussionen in der Schweiz stehen hier stellvertretend für eine gesellschaftliche Findungsphase. Hier wird sich aber bezüglich Klimaschutz und erzwungenermassen auch aus Gründen der Versorgungssicherheit in den nächsten Jahren nicht nur in der Schweiz viel bewegen.
Anforderungen an Stromverteilung steigen markant
Mit dem Wachstum sowohl des Stromkonsums als auch des Anteils der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung nehmen die zeitlichen und regionalen Asymmetrien zwischen Produktion und Konsum zu. Der Wind weht nicht unbedingt dann, wenn die Waschmaschine läuft. Mehr Strom wird zunehmend dezentral und zu unterschiedlichen Zeiten produziert und verbraucht werden. Neben dem Aufbau von Speicherkapazitäten kommt dem Stromnetz eine entscheidende Bedeutung zu, denn die Anforderungen an die Stromverteilung steigen markant. Ein umfassender Aus- und Umbau steht an. Die IEA rechnet mit global notwendigen Investitionen von mindestens CHF 600 Mrd. pro Jahr für die nächsten Dekaden.
Stromversorgung als Nervensystem der Dekarbonisierung
Mit «Super Grids» wird eine regionale Erweiterung bestehender Netzwerke angestrebt, um eine möglichst breite Ausdehnung über Klima- und Zeitzonen zu erreichen. Entstehende Produktionsanlagen in Nordafrika könnten so das europäische Netz stabilisieren. «Smart Grids» hingegen helfen, Erzeugung, Speicherung und Verbrauch besser aufeinander abzustimmen, indem sie die Nachfrage in Abhängigkeit des Angebots steuern. Das intelligente Stromnetz informiert ein zur Aufladung verbundenes Elektroauto über die Verfügbarkeit von Strom und nutzt Wetterprognosen, um diese abzuschätzen. Eine leistungsfähige Stromversorgung ist das Nervensystem der Dekarbonisierung.
Stromversorger im Mittelpunkt
Stromversorgern kommt in diesem Umfeld eine immer zentralere Bedeutung zu. Vom signifikanten Aus- und Umbau der Netzinfrastruktur könnten auch Zulieferer profitieren. Die erforderlichen Investitionen und die jeweils holprige politische Findungsphase sind eine Herausforderung für den Sektor, eröffnen aber auch Anlagechancen. Stromversorger werden dem Sektor «Utilities» zugeordnet, der wenig vom Wirtschaftsgang abhängt, was im aktuellen Umfeld von Vorteil sein dürfte. Steht Ihr Portfolio schon unter Strom?