Steigende Ungleichheit

In den meisten Ländern haben die Einkommens- und Vermögensunterschiede in den vergangenen Jahren zugenommen. Die Gründe dafür sind vielfältig und sowohl auf globale als auch auf länderspezifische Faktoren zurückzuführen. Da eine hohe Ungleichheit bedeutende negative Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft hat, dürften Umverteilungsfragen an Bedeutung gewinnen. Lesen Sie die Einordnung von Chefökonom, Martin Weder.

Text: Martin Weder / Bild: Christian Grund

«Die Schweiz steht mit ihrer direkten Demokratie, dem dualen Bildungssystem, dem flexiblen Arbeitsmarkt und einem fein austarierten Steuer- und Finanzausgleichssystem relativ zu den anderen Ländern gut da», erklärt Chefökonom Martin Weder. (Bild: Meinrad Schade)

«Keine Gesellschaft kann gedeihen und glücklich sein, in der der weitaus grösste Teil ihrer Mitglieder arm und elend ist.» Diese Aussage könnte von einem Politiker, einer Nichtregierungsorganisation oder einer Gewerkschafterin stammen. Tatsächlich stammt dieses Zitat aber von Adam Smith, Gründungsvater der Nationalökonomie und starker Befürworter der freien Marktwirtschaft. Zu finden ist es in seinem 1776 erschienenen Werk «Der Wohlstand der Nationen».

Das Zitat unterstreicht, dass für ein friedliches und zufriedenes Zusammenleben in einer Gesellschaft nicht nur die Grösse des Wohlstandskuchens von Bedeutung ist, sondern auch die Verteilung der einzelnen Kuchenstücke.

In den vergangenen Jahren ist das Thema der Ungleichheit verstärkt in den Fokus von Politik, Wissenschaft und Gesellschaft gerückt. Der frühere US-Präsident Barack Obama bezeichnete die Ungleichheit in einer viel beachteten Rede sogar als die wichtigste Herausforderung unserer Zeit.

Steigende Einkommensunterschiede

Die Einkommen und Vermögen sind global betrachtet sehr ungleich verteilt (vgl. Grafik). Gemäss den detaillierten Zahlen der World Inequality Database verfügen die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung über 52 Prozent des Gesamteinkommens. Demgegenüber beträgt der Anteil der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung gerade einmal 8,5 Prozent. Bei den Vermögen sind die Unterschiede noch deutlich grösser. Mehr als drei Viertel des globalen Gesamtvermögens gehören den reichsten 10 Prozent. Der Anteil der unteren 50 Prozent beträgt dagegen lediglich 2 Prozent.

Globale Einkommens- und Vermögensungleichheit

Quellen: Zürcher Kantonalbank, World Inequality Database

Damit die Zahlen richtig interpretiert werden können, ist ein Ländervergleich sowie ein Vergleich über die Zeit wichtig. Auf regionaler Ebene fällt auf, dass die Einkommensunterschiede in Afrika südlich der Sahara, in Lateinamerika sowie im Nahen Osten besonders gross sind. Europa hingegen ist die Region mit der geringsten Ungleichheit. In den reichen Industrieländern sind die Einkommensunterschiede tendenziell deutlich tiefer als in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Eine bedeutende Ausnahme bilden jedoch die USA.

Seit Beginn der 1980er-Jahre hat die Ungleichheit in den meisten Industrie- und Schwellenländern zugenommen. Haupttreiber dafür war ein überproportional starker Anstieg der höchsten Einkommen. Insbesondere in den USA sowie in China, Indien und Russland haben sich die Einkommensunterschiede deutlich akzentuiert. In Afrika, Lateinamerika und im Nahen Osten ist dagegen kein klarer Trend erkennbar – hier sind die Unterschiede auf sehr hohem Niveau relativ stabil geblieben.

Und wie steht die Schweiz da?

In der Schweiz hat sich die Ungleichheit auf vergleichsweise tiefem Niveau leicht erhöht. Beim Vermögen haben die Unterschiede in den vergangenen Jahren noch stärker zugenommen. Getrieben von boomenden Aktien- und Immobilienmärkten konnten die reichsten Individuen ihr Vermögen in den letzten 30 Jahren um 6 bis 9 Prozent pro Jahr vermehren, das durchschnittliche Vermögen wuchs dagegen nur um rund 3 Prozent pro Jahr. Doch während die Differenzen auf Länderebene gestiegen sind, hat die Ungleichheit zwischen den Ländern in den vergangenen vier Jahrzehnten abgenommen. Dieser auf den ersten Blick vielleicht überraschende Befund ist hauptsächlich auf das hohe Wirtschafts- und Lohnwachstum in den grossen Schwellenländern wie China und Indien zurückzuführen, womit sich die Einkommenslücke zu den reichen Industrieländern verringert hat.

Vielschichtige Ursachen der Ungleichheit

Globalisierung und technologischer Fortschritt

Der rasche Aufstieg Chinas und die zunehmende globale wirtschaftliche Verflechtung gingen mit einem rasanten technologischen Fortschritt einher. Von beiden Entwicklungen haben die oberen Einkommensschichten stärker profitiert als die mittleren und tieferen. So hat der intensive Wettbewerb in der Industrie zu einer Verlagerung der Arbeitsplätze von den reichen Industrieländern zu den billigeren Schwellenländern geführt. Insbesondere in den USA sind viele klassische Fabrikarbeiterjobs verschwunden. Gleichzeitig nahm die Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften stark zu – und damit stiegen auch deren Löhne. Mit den modernen Informations- und Kommunikationsmitteln entstanden globale Märkte – Sportler, Musikerinnen und Schauspieler erreichten plötzlich ein Milliardenpublikum und erzielen heute teilweise astronomische Einnahmen.

Zunehmende Marktkonzentration

Auch die zunehmende Marktkonzentration hat zur steigenden Einkommensungleichheit beigetragen. Die Gewinnmargen der grossen Unternehmen sind in den vergangenen Jahrzehnten in den meisten Ländern deutlich gestiegen, was auf einen abnehmenden Wettbewerb hindeutet. Die höhere Konzentration ist eine Folge verschiedener Faktoren. Im Informations- und Kommunikationsbereich profitieren Unternehmen von sogenannten Netzwerkeffekten. Der Nutzen dieser Dienstleistungen ist für den Einzelnen umso grösser, je mehr Menschen sie ebenfalls nutzen. Entsprechend wird der Markt von wenigen grossen hochprofitablen Firmen wie Alphabet, Apple, Meta und Microsoft dominiert. Darüber hinaus haben aber auch zahlreiche Firmenübernahmen zur Marktkonzentration beigetragen. In verschiedenen Branchen ist die staatliche Regulierung zudem sehr detailliert und weitreichend (z.B. Energie, Pharma, Finanzsektor), was zu hohen Markteintrittshürden und damit zu vergleichsweise wenig Wettbewerb führt. Angestellte und Aktionäre solcher Firmen profitieren von hohen Löhnen und Dividenden. Dazu kommt, dass die Saläre vieler Chefs und Chefinnen von Firmen unabhängig vom Erfolg des jeweiligen Unternehmens stark gestiegen sind.

Steuer- und Sozialpolitik

Einige Kritikerinnen und Kritiker sehen Veränderungen in der Steuer- und Sozialpolitik als weitere Ursache für die wachsende Ungleichheit. So sind die Spitzensteuersätze auf Einkommen in den vergangenen Jahrzehnten in vielen Ländern gesenkt worden. In den USA lag der höchste Steuersatz nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise lange Zeit bei über 90 Prozent. Unter Präsident Reagan wurde er in den 1980er-Jahren dann zunächst auf 50 Prozent und später auf 28 Prozent gesenkt. Gleichzeitig sind weltweit auch die Steuern auf Unternehmensgewinne gesunken. Die bevorzugte Besteuerung von Kapital- gegenüber Arbeitseinkommen liess den US-Milliardär Warren Buffett verblüfft feststellen, dass er einen tieferen Steuersatz bezahlt als seine Sekretärin. Die Aushöhlung von Arbeitsmarktinstitutionen wie Mindestlohngesetze und Tarifverhandlungen sowie weniger grosszügige Arbeitslosengelder werden als weitere Faktoren genannt, welche vor allem die tiefen Einkommen unter Druck gesetzt und damit die Ungleichheit zusätzlich verschärft hätten.

Gesellschaftliche Entwicklungen

Neuere Untersuchungen zeigen, dass auch gesellschaftliche Veränderungen über die Zeit zu steigenden Einkommensunterschieden beigetragen haben. So wird die Einkommensverteilung unter anderem auch von der zunehmenden Alterung, dem wachsenden Anteil von Single-Haushalten und alleinerziehenden Eltern sowie dem Trend zur Teilzeitarbeit getrieben. Darüber hinaus hat sich auch das Beziehungs- und Heiratsverhalten verändert. Im Vergleich zu früheren Generationen gibt es bei jungen Paaren heutzutage weniger Unterschiede bezüglich Bildung und Einkommen – mit der Folge, dass die Unterschiede zwischen den Haushalten zunehmen.

Weitreichende Implikatinen der Ungleichheit

Politische und gesellschaftliche Stabilität

Die Geschichte zeigt, dass grosse Einkommensunterschiede zu politischer und sozialer Instabilität führen können. Bei extremer Ungleichheit fühlt sich in der Regel ein wachsender Bevölkerungsanteil übergangen und benachteiligt, was die politische Polarisierung begünstigt. In vielen Ländern gehen hohe Einkommen und Vermögen zudem mit mehr politischem Einfluss und Macht einher. Dies kann zu einer Politik führen, die die Reichen begünstigt. Dadurch werden Ungleichheiten verfestigt und demokratische Prozesse untergraben. Überwiegt die Wahrnehmung, dass das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ungerecht und unfair ist, kann es im Extremfall zu Protesten und soziale Unruhen kommen.

Wirtschaftliche Entwicklung

Eine hohe Ungleichheit kann zudem die wirtschaftliche Entwicklung und das Wachstum hemmen. Dies trifft insbesondere auf ärmere Länder zu, da dadurch das Entstehen eines kaufkräftigen Mittelstandes erschwert wird. Haushalte mit hohem Einkommen haben in der Regel eine deutlich höhere Sparneigung – diese Ersparnisse fehlen dann beim Konsum. Eine breit abgestützte Zunahme des Konsums gilt neben den Investitionen aber als einer der wichtigsten Wachstumstreiber einer Volkswirtschaft.

Möglichkeiten und soziale Mobilität

Grosse Ungleichheiten führen oft dazu, dass Menschen aus einkommensschwachen Schichten von Geburt an deutlich schlechtere Chancen haben, im Leben erfolgreich zu sein, zum Beispiel weil der Zugang zu den besten Bildungs- und Gesundheitsangeboten eingeschränkt ist. Die soziale Mobilität sinkt, und junge Menschen schaffen es trotz Talent und grosser Anstrengung kaum, in höhere Einkommensschichten aufzusteigen. Umgekehrt sind Kinder aus reichen Haushalten privilegiert und steigen ungeachtet ihrer Fähigkeiten und ihres Leistungswillens kaum ab. Beide Phänomene widersprechen dem Prinzip einer Leistungsgesellschaft.

Gesundheit und Wohlbefinden

Das vielleicht wichtigste Argument ist aber die Tatsache, dass ein sehr enger Zusammenhang zwischen Ungleichheit und verschiedenen gesundheitlichen und sozialen Problemen besteht. Die Häufigkeit von psychischen Problemen, Übergewicht, Drogenmissbrauch, Kriminalität, Kindersterblichkeit und Misstrauen gegenüber anderen Menschen hängt stark davon ab, wie ungleich die Einkommen in einer Gesellschaft verteilt sind. Daher sollten alle Einkommensschichten ein Interesse daran haben, dass die Ungleichheit nicht immer weiter zunimmt.

Wie reagiert die Politik darauf?

Die steigende Einkommens- und Vermögensungleichheit stellt ein komplexes und relevantes gesellschaftliches Problem dar. Die Politik steht dieser Entwicklung jedoch nicht machtlos gegenüber. Über die Steuerpolitik, einen universellen Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sowie starke Sozialsysteme lässt sich die Ungleichheit spürbar reduzieren. So hat es die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie, dem dualen Bildungssystem, dem flexiblen Arbeitsmarkt und einem fein austarierten Steuer- und Finanzausgleichssystem geschafft, dass die Einkommensunterschiede unterdurchschnittlich und über die Zeit relativ stabil geblieben sind. Eine wohlhabende und zugleich stabile und faire Gesellschaft muss also keine Utopie sein.

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