Taiwan-Konflikt: Eine Einordnung

Taiwan ist eine noch junge Demokratie. Über den rechtlichen Status des Landes herrscht jedoch Uneinigkeit. Bis 2049 sieht die Volksrepublik China eine Integration Taiwans vor. Im Hinblick auf eine militärische Eskalation ist die Rolle der USA dabei von strategischer Doppeldeutigkeit. Mehr dazu im Beitrag von Senior Economist David Marmet.

Text: David Marmet

«Bis 2049 soll der chinesische Traum verwirklicht und China wieder eine Weltmacht sein. Derweil ist klar, dass die territoriale Integrität – also inklusive Taiwan – zu diesem Traum dazu gehören. Taiwan zu integrieren, ist für China gesetzt», erklärt David Marmet. (Bild: lisanto/unsplash)

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine werden die politischen Diskussionen über den Status Taiwans auf internationaler Ebene wieder intensiver geführt. Viele Finanzmarktinvestoren fragen sich, was bei einer Eskalation passieren würde und ob eine finanzielle Absicherung ihrer Anlagen sinnvoll wäre.

Für die einen ist ein Krieg um Taiwan wahrscheinlicher geworden, andere sehen die Entwicklung in der Ukraine als abschreckendes Beispiel. Die Frage, ob und wann die Volksrepublik China versuchen könnte, Taiwan (einschliesslich der Inseln Matsu, Kinmen und Penghu) militärisch zu erobern, wird also kontrovers diskutiert – und lässt sich kaum schlüssig beantworten.

An dieser Stelle wollen die Experten der Zürcher Kantonalbank auch keine Prognose wagen, sondern vielmehr versuchen, die historischen Hintergründe zu beleuchten, die zu einer der grössten geopolitischen Herausforderungen unserer Zeit geführt haben.

Die Sichtweisen divergieren

Für die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Taiwan ein untrennbarer Teil Chinas ist. Taiwan gehöre seit dem Altertum zu China, wird von offizieller Seite immer wieder kolportiert. Sollten die Verantwortlichen der KPCh nicht mehr an eine friedliche «Wiedervereinigung» glauben können, müsse man eben zu «nicht friedlichen» Mitteln greifen. Freilich sehen es die meisten Bewohner Taiwans anders – und dies je länger je mehr. Taiwan sei inzwischen faktisch ein eigenständiger Staat, der sich an demokratische Regeln halte. Wie vertrackt die Situation ist, lässt sich allein schon aufgrund des Wikipedia-Eintrags «Rechtlicher Status Taiwans» erahnen: In der englischen Version ist dieser Eintrag 43 Seiten lang.

Die Geschichte Taiwans

Über die Beziehung zwischen der Insel Taiwan und dem chinesischen Festland vor Ankunft der Europäer gibt es nur spärliche und ungesicherte Informationen. Die erste grosse Einwanderungswelle der Chinesen erfolgte Anfang des 17. Jahrhunderts während der Kolonialherrschaft der Niederländer auf Formosa, dem heutigen Taiwan. Die von den Mandschuren gegründete Qing-Dynastie stellte die Insel Taiwan 1684 dann erstmals unter die Kontrolle Festlandchinas. Mit dem anglo-chinesischen Opiumkrieg von 1839 bis 1842 und dem sich abzeichnenden Ende des chinesischen Kaiserreiches geriet Taiwan wieder vermehrt in den Fokus europäischer Kolonialmächte und Japans. Und nach dem Ende des chinesisch-japanischen Krieges von 1894/95 musste das Kaiserreich die Insel Taiwan im Vertrag von Shimonoseki an Japan abtreten.

Damit begann eine 50-jährige Kolonialgeschichte. Das japanische Kaiserreich sah Taiwan als eine moderne Modellkolonie, in der die taiwanische Bevölkerung zur Annahme der Sprache und Kultur Japans gezwungen wurde. Nach der Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg fiel Taiwan an China. General Chiang Kai-shek und seine chinesische Nationalpartei, die Kuomintang (KMT), übernahmen die Herrschaft über die Insel. Sie trafen dort auf eine moderne, japanisierte Gesellschaft. Chiang Kai-shek meinte, diese Gesellschaft müsse möglichst rasch sinisiert werden. Schnell wuchs die Unzufriedenheit der Taiwaner über das Machtgebaren der KMT.

1947 kam es zu einem wochenlangen Aufstand. In der Folge verhängte Chiang Kai-shek das Kriegsrecht, Oppositionsparteien wurden verboten und die Taiwaner fühlten sich als Untertanen und nicht als Bürger. Damit begann eine Gewaltwelle gegen die taiwanische Bevölkerung, die unter dem Namen des «Weissen Terrors» in die Geschichte eingehen sollte und je nach Schätzungen zwischen zehn- und dreissigtausend Menschenleben forderte. In dieser Periode war auch der Bürgerkrieg zwischen dem rechten Flügel der Kuomintang und der kommunistischen Partei auf Festlandchina in die Endphase getreten. Die Rote Armee unter der Führung Mao Zedongs war politisch und kampfmoralisch im Vorteil und eroberte in rascher Folge wichtige Städte, so dass am 1. Oktober 1949 Mao als Vorsitzender der neuen Regierung die Volksrepublik ausrief. Chiang Kai-shek flüchtete mit mindestens 1,2 Millionen Gefolgsleuten seiner Kuomintang und einem erheblichen Teil des Staatsschatzes nach Taiwan.

Eckpunkte in der Geschichte Taiwans

  • Ab 1624 von Portugiesen, Spaniern und Niederländern besetzt
  • 1682 erstmals unter Kontrolle Chinas
  • 1886 Status einer chinesischen Provinz
  • 1895 Vertrag von Shimonoseki: Japanische Kolonie
  • 1945 Nach Kapitulation Japans: Verwaltung durch Republik China
  • 1949 Chiang Kai-shek und seine Anhänger flüchten nach Taiwan
  • 1971 Verlust des Mandats im UNO-Sicherheitsrat
  • 1979 USA nehmen diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik auf
  • 1992 Erste freie Parlamentswahlen

Die Frage der UNO-Mitgliedschaft

Die Republik China war 1945 eines der Gründungsmitglieder der UNO und ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat. Nach der Gründung der Volksrepublik 1949 beanspruchten sowohl die Republik, die nun mehr oder weniger mit Taiwan gleichzusetzen ist, als auch die Volksrepublik den Sitz Chinas in der UNO und ihren Gremien. Die Führungsriege der Kuomintang weigert sich auf die Forderungen verschiedener UNO-Mitglieder einzutreten, die eine duale Anerkennung für China und Taiwan anstrebten. Durch die Unterstützung der USA blieb die Republik China vorerst Mitglied des UNO-Sicherheitsrates. Dann aber begannen die Beziehungen zwischen den USA und der Volksrepublik zu tauen, und die USA hoben ihre Blockadehaltung auf.

Taiwan bis heute kein UNO-Mitglied

1971 verabschiedete die UNO-Vollversammlung die Resolution 2758, die Chinas Sitz in der UNO der Volksrepublik zusprach. Konkret: «Die Vollversammlung der Vereinten Nationen (…) beschliesst, all die Rechte der Volksrepublik China instandzusetzen und die Vertreter ihrer Regierung als die einzigen legitimierten Vertreter Chinas in den Vereinten Nationen anzuerkennen». Der Status oder die Vertretung Taiwans werden in der Resolution nicht erwähnt. Bis heute ist Taiwan kein UNO-Mitglied. Für die Volksrepublik ist klar, dass es spätestens seit der UNO-Resolution nur ein China gibt (Ein-China-Politik).

Taiwan – eine noch sehr junge Demokratie

Nach dem Tod Chiang Kai-sheks 1975 fand eine allmähliche innenpolitische Liberalisierung statt. Das Kriegsrecht galt allerdings knapp 40 Jahre lang und wurde erst 1987 aufgehoben. Hatte die Kuomintang jahrzehntelang praktisch als alleinige Partei regiert, fanden im Zuge der Demokratisierung 1992 erstmals freie Wahlen statt. Die noch in der Illegalität gegründete Demokratische Fortschrittspartei (DPP) errang in der Folge zahlreiche Wahlerfolge und konnte 2000 mit Chen Shui-bian erstmals den Präsidenten stellen. Im Demokratieindex von «The Economist» belegt Taiwan heute Platz 10 von 167 Ländern – angesichts der sehr kurzen Demokratiegeschichte ein beachtlicher Erfolg.

Taiwan: Kleines Land, grosse geoplitische Wirkung

Taiwan (hellblau) und Volksrepublik China (dunkelblau)

Die USA und der «Taiwan Relations Act»

Aussenpolitisch lief es harzig. Neben der UNO-Resolution musste gar der Abbruch der diplomatischen Beziehung zur jahrelangen Schutzmacht USA hingenommen werden. Bereits 1971 war das amerikanische Tischtennisteam in die Volksrepublik eingeladen worden, woraus die sogenannte «Ping-pong-Politik» entstand. Richard Nixon besuchte ein Jahr später als erster US-Präsident die Volksrepublik, und 1979 nahmen die beiden Staaten volle diplomatische Beziehungen auf. Im Umkehrschluss hiess das, dass die diplomatischen Beziehungen zu Taiwan pro forma abzubrechen waren.

Der US-Kongress erliess indes ein Gesetz (Taiwan Relations Act), das quasi-diplomatische Beziehungen durch die Eröffnung eines Kulturinstituts aufrechterhielt. Dieses Gesetz besagt unter anderem, dass «die Vereinigten Staaten Taiwan Verteidigungsgüter und Verteidigungsdienste in dem Umfang zur Verfügung stellen werden, der erforderlich ist, um Taiwan in die Lage zu versetzen, eine ausreichende Fähigkeit zur Selbstverteidigung aufrechtzuerhalten» und «die Fähigkeit der Vereinigten Staaten aufrechtzuerhalten, sich jeglicher Anwendung von Gewalt oder anderen Formen von Zwang zu widersetzen, die die Sicherheit oder das soziale oder wirtschaftliche System der Bevölkerung Taiwans gefährden würden». Die Formulierung ist – zumindest aus heutiger Perspektive – interpretationsbedürftig, um nicht zu sagen schwammig.

Diese Politik wird auch als «strategische Ambiguität» bezeichnet und soll Taiwan von einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung und die Volksrepublik von einer einseitigen Vereinigung mit Taiwan abhalten. Die Volksrepublik betrachtet den Taiwan Relations Act als unzulässige Einmischung in innerchinesische Angelegenheiten.

Aktueller Stand: Die Positionen bleiben verhärtet

Obwohl Taiwan bis heute noch nie unter der Herrschaft der Volksrepublik China stand, besteht in der Volksrepublik seit 2005 das Antiabspaltungsgesetz, in dem der Volkskongress die Wiedervereinigung des Vaterlandes mit der Provinz Taiwan anstrebt. Sollten die Möglichkeiten einer friedlichen Lösung ausgeschöpft sein, sieht das Gesetz auch den Einsatz nichtfriedlicher Mittel vor. Militärische Manöver dazu gibt es immer wieder, insbesondere wenn sich China vom Westen in seiner nationalen Souveränität und territorialen Integrität bedroht fühlt – wie zum Beispiel 2022, als die damalige Sprecherin des US-Abgeordnetenhauses, Nancy Pelosi, Taiwan besuchte und in der Folge die chinesischen Streitkräfte gezielte Militäroperationen vor der Küste Taiwans durchführten.

Bietet die USA Unterstützung?

Die US-Regierung ihrerseits spielt mit der erwähnten strategische Ambiguität. So antwortete Präsident Biden bereits wiederholt auf die Frage von Journalisten, ob die US-Streitkräfte Taiwan im Falle einer chinesischen Invasion verteidigen würden, mit einem klaren Ja. Das Weisse Haus betonte aber hinterher jeweils, dass sich die US-Politik nicht geändert habe und die USA offiziell nicht sagten, ob amerikanische Streitkräfte Taiwan im Falle eines chinesischen Überfalls verteidigen würden.

Uneinheitliche Meinungen in der EU

Auch die Haltung der Europäischen Union ist alles andere als einheitlich. So erklärte der französische Präsident Macron im April 2023, Europa dürfe sich von den USA nicht in einen Krieg mit China ziehen lassen. Die Krise um Taiwan sei kein primär europäisches Problem. Demgegenüber betonte EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen bei ihrem Chinabesuch, dass niemand den Status quo einseitig mit Gewalt ändern dürfe, ein solches Vorgehen wäre inakzeptabel.

Es zeigt sich also, dass die verschiedenen Kontrahenten noch an ihren Positionen feilen. Mit diplomatischen – und manchmal auch undiplomatischen – Mitteln wird versucht, herauszufinden, wie entschieden die gegnerischen Parteien ihre Positionen im Falle eines sich anbahnenden Krieges durchzusetzen gedenken.

China zurück zur Weltmacht?

Seit den Opiumkriegen des 19. Jahrhunderts sieht sich China durch den westlichen Imperialismus in die Opferrolle gedrängt. Dieses Narrativ wird von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) zur Begründung genutzt, China müsse zu alter Stärke zurückkehren. Dabei sei China bereit, mit allen zu kooperieren. Die zukünftige internationale Ordnung sei eine multipolare Welt, daher müsse die Hegemonialstellung der USA überwunden werden.

Integration Taiwans als Ziel gesetzt

Xi Jinping hat sein Volk bereits bei seinem Amtsantritt 2012 auf die Verwirklichung des chinesischen Traums eingestimmt. Bis 2049, also hundert Jahre nach der Gründung der Volksrepublik, soll die grosse nationale Renaissance in Erfüllung gegangen und China wieder eine Weltmacht sein. Die Vision vom chinesischen Traum ist freilich so umfassend und vage, dass die Deutungshoheit über den Weg und das Ziel von der KPCh-Führung laufend angepasst werden kann. Derweil ist klar, dass die politische Stabilität, gleichbedeutend mit dem Machterhalt der KPCh, und die territoriale Integrität – also inklusive Taiwan – zum chinesischen Traum gehören. Das Ziel, Taiwan zu integrieren, ist gesetzt. Die grosse Frage ist, ob dies mit friedlichen Mitteln möglich ist.

Wie weiter?

Wie uns die Geschichte lehrt, führen Regierungswechsel immer wieder dazu, dass festgefahrene und bis dahin als unumstösslich geltende Positionen ins Wanken geraten. Darauf dürfte die KPCh vorerst setzen. Im Januar 2024 finden in Taiwan Präsidentschaftswahlen statt. Ob die bisherige Regierungspartei DPP oder die Festlandchina-freundlichere Kuomintang das Rennen machen wird, ist zurzeit noch offen.

Wahlen von grosser Bedeutung

Bekanntlich wird in den USA das Präsidentenamt im November 2024 ebenfalls neu besetzt. Wie in der Folge der Taiwan Relations Act ausgelegt wird, steht noch in den Sternen. Und zu guter Letzt wird nach den Europawahlen 2024 die EU-Kommission möglicherweise anders zusammengesetzt sein. Je nach Ausgang der Wahlen können sich also die Sichtweisen der Kontrahenten zum Konflikt um Taiwan ändern.

Vorhersage ist schwierig

Im Weiteren dürfte die starke wirtschaftliche Interdependenz zwischen China und USA ein wesentlicher Hemmfaktor für eine militärische Eskalation sein. Wobei intensiv diskutiert wird, ob der derzeitige Wettbewerb um die Führungsrolle in der Mikrochips-Herstellung eskalierende oder dämpfende Wirkung auf den Taiwan-Konflikt hat. Die Geschichte lehrt uns indes auch, dass bei grosser Unzufriedenheit der Bevölkerung der steigende innenpolitische Druck gerne nach aussen abgeleitet wird. Dem eingangs erwähnten Finanzinvestor bleibt also als naheliegende Strategie in erster Linie die zeitnahe Beobachtung des Geschehens in und um Taiwan. Denn einen Fahrplan oder gar einen erkennbaren Zeitpunkt, wann es zur Eskalation kommen könnte oder kommen wird, gibt es zurzeit schlicht nicht.