Wie viel Inflation darf es sein?

2 Prozent: Diese Zahl wird von den Zentralbanken seit dem Inflationsanstieg ab 2021 wie ein Mantra wiederholt. Bei einer Inflationsrate von 2 Prozent ist das von den wichtigsten Notenbanken definierte Ziel der Preisstabilität gewährleistet. Doch wieso ist ein Inflationsziel bzw. eine Zielinflation wichtig, und wieso ausgerechnet die zwei Prozent? Der Beitrag von Chefstratege Manuel Ferreira liefert Antworten.

Text: Manuel Ferreira

«Ein institutionalisiertes Inflationsziel bekräftigt das Bestreben der Notenbanken nach Gewährleistung von Preisstabilität», erklärt Manuel Ferreira.

Eine angemessene Inflation ist wichtig für die Preisstabilität einer Volkswirtschaft, und diese ist wiederum eine Grundvoraussetzung für wirtschaftliche Stabilität. Eine zu hohe oder zu niedrige Inflation gilt als Signal dafür, dass Angebot und Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen sowie deren Verhältnis zur Geldmenge nicht im Gleichgewicht sind und dadurch die Stabilität der Wirtschaft sowie der Werterhalt des Geldes mittel- bis langfristig gefährdet sind.

Steigt die Inflation oder ist im Verhältnis zu den Gütern und Dienstleistungen zu viel Geld im Umlauf, sinkt der Geldwert bzw. die Kaufkraft und umgekehrt. Eine Erhöhung der Geldmenge ohne gleichzeitige Erhöhung der Gütermenge führt demnach zu Preissteigerungen bzw. zu einer Verringerung der Kaufkraft des Geldes. Aufgabe der Zentralbanken ist es, die Geldmenge zu steuern und damit für Preisstabilität zu sorgen.

Wie steuern Notenbanken ihre Geldmenge?

Notenbanken steuern die Geldmenge indirekt über den von ihnen festgelegten Leitzins. Liegt die Inflationsrate deutlich über der Zielinflation von 2 Prozent, reduzieren die Notenbanken die Geldmenge im Wirtschaftssystem, indem sie z.B. den Leitzins auf ein Niveau erhöhen, welches die Kreditvergabe reduziert und somit die Nachfrage sowie die Wirtschaftsaktivitäten bremst. Für den umgekehrten Effekt senken die Notenbanken den Leitzins in den wirtschaftsstimulierenden Bereich. Während das Jahrzehnt nach der Finanzkrise von 2008/09 z.B. von einer tiefen Inflation und einer stimulierenden Geldpolitik mit tiefen Zinsen geprägt war, befinden wir uns seit der Post-Covid-Erholung in einer Phase mit erhöhter Inflation und restriktiver Geldpolitik.

Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit der Notenbanken

Die Unabhängigkeit und damit die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken ist für die Gewährleistung der Preisstabilität von eminenter Bedeutung. Eine angemessene Sozial-, Wirtschafts- und Fiskalpolitik sind neben der Preisstabilität wichtig für eine möglichst reibungslose Entwicklung der Wirtschaft. Allerdings bestehen häufig Zielkonflikte zwischen politisch motivierten wirtschafts- und fiskalpolitischen Massnahmen und der Preisstabilität. Ein von den Zentralbanken glaubwürdig vertretenes Ziel verankert die Erwartungen hinsichtlich der zukünftigen Inflationsentwicklung. Fest verankerte Inflationserwartungen wiederum reduzieren die Planungsunsicherheit von Produzenten, Sparerinnen und Investoren. Sie sorgen für eine berechenbarere Geldwertentwicklung und fördern damit die Stabilität der Wirtschaft. Damit eine Zentralbank messen kann, ob sie ihre Aufgabe erfüllt, orientiert sie sich an einer Zielinflation.

Inflationsziel gleich Preisstabilität?

Ein institutionalisiertes Inflationsziel bekräftigt das Bestreben der Notenbanken nach Gewährleistung von Preisstabilität. Eine Zielinflation in Form eines Prozentsatzes definiert Preisstabilität und macht deren Einhaltung operationalisierbar und messbar.

Wer hat's erfunden?

Aus Neuseeland stammen nicht nur die flugunfähige Vogelart der Kiwis und der nach ihr benannte neuseeländische Exportschlager, die Kiwifrucht, sondern auch das erste von einer Zentralbank institutionalisierte und operationalisierte Inflationsziel.

«Reserve Bank of New Zealand Act»

Im Dezember 1989 verabschiedete das neuseeländische Parlament den «Reserve Bank of New Zealand Act», welcher ein Inflationsziel als geldpolitisches Konzept für die Gewährleistung von Preisstabilität festlegt.

Allerdings sind das Inflationsziel und die Zielinflation von 2 Prozent nicht das Ergebnis einer ausgereiften wissenschaftlichen Arbeit, sondern einer spontanen Äusserung des neuseeländischen Finanzministers Roger Douglas Ende der 1980er-Jahre. Damals kämpfte die neuseeländische Wirtschaft mit hohen zweistelligen Inflationsraten, und die Regierung sah in der Institutionalisierung der Unabhängigkeit der Zentralbank die Lösung des Problems. Die entsprechend wichtige gesetzliche Verankerung erfolgte mit dem «Reserve Bank of New Zealand Act».

Um die Unabhängigkeit der Reserve Bank of New Zealand zu kontrollieren, legte die Regierung gemeinsam mit der Zentralbank ein Inflationsziel fest. Wird dieses eingehalten, bleibt der Notenbankchef im Amt. Falls die Inflationsrate das Inflationsziel jedoch überschreitet, kann er entlassen werden. Wie hoch die Zielinflation sein soll, darüber mussten damals Finanzminister David Caygill und Notenbankchef Donald Brash entscheiden. Einen Ausgangspunkt für die Debatte lieferte der ehemalige Finanzminister Roger Douglas, als er 1988 in einem Interview sagte, dass er eine Inflationsrate zwischen 0 und 1 Prozent für angemessen halte. Allein diese unfundierte Aussage führte zu einer Veränderung der Inflationserwartungen. David Caygill und Donald Brash beschlossen letztlich, etwas Spielraum nach oben zu lassen, und so kam es zur Zielinflation von 2 Prozent. Bis 1991 sank die Inflation in Neuseeland tatsächlich auf 2 Prozent, und die Wirtschaft stabilisierte sich.

Das Erfolgsrezept sprach sich jedenfalls schnell herum. Die Bank of Canada und die Bank of England folgten bald dem Beispiel der neuseeländischen Zentralbank. Die neuseeländische Notenbank hat ihr Inflationsziel mittlerweile angepasst. Ihr Auftrag ist erfüllt, wenn die Inflationsrate sich in einem Zielband von 1 bis 3 Prozent bewegt. Und übrigens: Donald Brash begann seine Karriere als Ökonom bei der «New Zealand Kiwifruit Authority», welche die Exportstandards für Kiwis festlegt. Heute züchtet er Kiwis als Hobby.

Warum nicht 0 Prozent als Zielinflation?

Auch wenn die Herleitung des Inflationsziels von 2 Prozent etwas anekdotisch anmutet, gibt es schlüssige Argumente, wieso eine Inflationsrate von mehr als 0 Prozent erstrebenswert ist. Nachstehend die drei wichtigsten Gründe:

  1. Minimierung des Risikos einer Deflation
    Zu viel Inflation ist nicht gut, zu wenig aber auch nicht. Deflation, also ein anhaltender Rückgang des Preisniveaus, ist in der Regel ein Signal für einen Angebotsüberschuss oder ein Nachfragedefizit. Die Frage, ob zuerst der Angebotsüberschuss und dann das Nachfragedefizit auftrat oder umgekehrt, ist so schwer zu beantworten wie die Frage, ob das Huhn oder das Ei zuerst da war. Eine Deflationsphase wird dann als besorgniserregend eingestuft, wenn sie mit einem Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit einhergeht. Dabei spielen die Erwartungen eine zentrale Rolle. Gehen die Marktakteure von weiter sinkenden Preisen aus, warten sie mit Investitionen, was die Wirtschaftsaktivität weiter bremst. Um solche Erwartungen zu verhindern, signalisieren die Notenbanken, dass sie die Geldpolitik lockern werden, um die Wirtschaft und die Inflation wieder anzukurbeln.
  2. Berücksichtigung von Messfehlern
    Ein Anstieg des Preisniveaus reflektiert nicht nur eine steigende Knappheit oder ein steigendes Geldangebot, sondern widerspiegelt auch Qualitätsverbesserungen oder Leistungssteigerungen infolge des technologischen Fortschritts. Die sogenannte «hedonische Bewertungsmethode» korrigiert die Inflationsrate nur ungenau um diesen Effekt. Eine Inflationsrate von 2 Prozent berücksichtigt diese Messungenauigkeit.
  3. Handlungsspielraum für Zinssenkungen
    Notenbanken orientieren sich bei der Festlegung des Leitzinses an einem langfristigen, gleichgewichtigen und nominellen Zinsniveau. Dieses müsste real betrachtet in etwa der langfristigen Leistungskraft einer Wirtschaft entsprechen – sagen wir 1 Prozent für die entwickelten Länder. Für die nominelle Betrachtung rechnet man noch die Zielinflation von 2 Prozent hinzu. Das ergibt einen langfristigen, gleichgewichtigen, nominellen Zinssatz von 3 Prozent. Bei einer Zielinflation von 0 Prozent wären es nur 1 Prozent. Mit 3 Prozent verschaffen sich die Notenbanken mehr Handlungsspielraum bei der Senkung des Leitzinses. Mit nur 1 Prozent würden die Notenbanken dagegen sehr schnell den Tiefpunkt der Handlungsspannbreite erreichen.
    Aus den genannten Gründen hat sich eine Zielinflationsrate über 0 Prozent durchgesetzt. Viele Zentralbanken haben ein Zielband, z.B. 0 bis 2 Prozent, als Zielinflationsrate für eine stabile Preisentwicklung definiert. Ein Inflationsziel mit einer Zielinflationsrate um 2 Prozent als Definition von Preisstabilität wurde von den Zentralbanken erst ab den 1990er-Jahren schrittweise institutionalisiert. Die US-Notenbank (Fed) hat das Inflationsziel erst im Jahr 2012 formalisiert, und die Schweizerische Nationalbank (SNB) änderte ihr geldpolitisches Konzept im Jahr 2000. Sie gab das Geldmengenziel auf und richtet ihre Geldpolitik seither an ihrer Inflationsprognose aus. Bei einer Inflationsrate von unter 2 Prozent sieht die SNB die Preisstabilität als gewährleistet an.

Preisstabilität gleich Wirtschaftsstabilität und Wohlstand

Preis- und Wirtschaftsstabilität stehen seit jeher im Mittelpunkt der Zentralbankaufgaben. Dabei setzen die meisten Zentralbanken wirtschaftliche Stabilität mit der Gewährleistung von Preisstabilität gleich. Einzelne Notenbanken, darunter die wichtige US-Notenbank, verfolgen neben der Preisstabilität auch eine niedrige Arbeitslosigkeit als explizites Ziel. Die Gewährleistung von Preisstabilität durch die Verfolgung eines expliziten Inflationsziels wird als Verbesserung der Geldpolitik angesehen, welche die Verringerung der Inflationsvolatilität ab den 1990er-Jahren ermöglichte. Diese Epoche ist ein gutes Beispiel dafür, dass ein glaubwürdig umgesetztes Preisstabilitätsmandat der Zentralbanken die Volatilität der Inflation und der Konjunkturzyklen reduziert.

Der inflationären Entwicklung nach der Coronakrise und dem Ukarine-Krieg wird in den Wirtschaftsgeschichtsbüchern sicher mehr als ein Kapitel gewidmet werden. Die Wirtschaft kämpft noch heute mit den Nachwirkungen der Preisverzerrungen, die aus dem pandemie- und kriegsbedingten Angebotsschock sowie der Liquiditätsausweitung im Zusammenhang mit den fiskal- und geldpolitischen Stützungsmassnahmen während der Coronakrise resultierten. All dies verstärkte innerhalb kurzer Zeit die inflationären Effekte eines Angebots- und Nachfrageschocks. Allen Unkenrufen zum Trotz hat die weltweite Straffung der Geldpolitik durch die Zentralbanken ein Ausufern der Inflation verhindert. Die Zielinflation von 2 Prozent ist ausserhalb der Schweiz zwar noch nicht erreicht. Die konsequente Umsetzung eines Inflationsziels wirkt sich aber bereits jetzt stabilisierend auf Wirtschaft und Wohlstand aus.

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