«Kinder, wir bleiben in der Stadt»
Gerade für Familien dürfte es aufgrund der hohen Preise und Mieten schwierig sein, bezahlbaren Wohnraum in der Stadt Zürich zu finden. Dennoch werden Familien nicht verdrängt. Ihr Anteil hat in der Stadt Zürich und den umliegenden Gemeinden in den letzten Jahren sogar zugenommen.
Text: Isabella Kübler, Analytics Immobilien
Wer in der Stadt Zürich eine Wohnung sucht, kennt das: lange Schlangen bei Wohnungsbesichtigungen. Die Leerwohnungsziffer ist seit Jahren nahe null. Frei werdende Wohnungen sind sofort wieder vergeben. Das starke Bevölkerungswachstum und die geringe Bautätigkeit haben den Nachfrageüberhang jüngst noch verschärft. Für Familien, die sich in der Stadt Zürich auf der Suche nach einer neuen Mietwohnung befinden, sind die Aussichten auf eine passende Bleibe besonders düster. Die Bauindustrie hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr auf kleine Wohnungen fokussiert (siehe untenstehende Grafik). Auch bestehende grosse Mietwohnungen kommen seltener auf den Markt.
Aufgrund des hohen Unterschieds zwischen Bestandes- und Neumieten lohnt sich die Verkleinerung der Wohnsituation häufig finanziell nicht, sodass Eltern auch nach dem Auszug der Kinder in der grossen Mietwohnung bleiben. Für neu gegründete Familien steht folglich ein deutlich reduziertes Angebot zur Verfügung. Bei den grösseren Wohnungen konkurrieren sie mit finanzkräftigen Doppelverdienern, und bei den ohnehin nur für kleine Familien geeigneten 3-Zimmer-Wohnungen müssen sie sich zusätzlich noch gegen Einpersonenhaushalte behaupten. Angesichts dieser Konkurrenz stellt sich die Frage, welche Familien sich städtisches Wohnen noch leisten können. Viele befürchten, dass Familien zunehmend aus den Städten verdrängt werden. Unsere Analyse der Gebäude- und Wohnungsstatistik (GWS) bringt diesbezüglich Erstaunliches ans Licht.
Es werden kaum noch grosse Wohnungen gebaut
Wohnungsgrössen (Anzahl Zimmer) nach Baujahr im Kanton Zürich in Prozent
Mehr Familien in der Stadt Zürich
Es ist in der Tat nicht so, dass Familien das Stadtbild prägen. Im Jahr 2021 war nur jeder fünfte Haushalt in der Stadt Zürich eine Familie (Haushalt mit mindestens einem minderjährigen Kind). Das ist einer der tiefsten Werte im ganzen Kanton. Zum Vergleich: Den höchsten Familienanteil weist die Gemeinde Hüttikon auf, hier ist mehr als jeder dritte Haushalt eine Familie.
Familien verschwinden jedoch nicht aus der Stadt – im Gegenteil, der Anteil Haushalte mit Kindern hat in der Stadt Zürich zwischen 2014 und 2021 sogar leicht zugenommen um 1,3 Prozentpunkte (siehe Karte zum Familienanteil). Vor allem die Quartiere Wollishofen, Fluntern und Albisrieden haben bei Familien zugelegt. Das Quartier Hard ist hingegen in dieser Hinsicht die Ausnahme. Hier wohnten 2021 rund 100 Familien weniger als sieben Jahre zuvor. Erstaunlich ist, dass nicht nur die Limmatstadt eine Zunahme in diesem Zeitraum verzeichnet hat, sondern auch viele andere hochpreisige Gemeinden wie Uitikon, Küsnacht oder Zollikon. Auch in Stallikon, Birmensdorf, Rümlang oder Bülach ist der Familienanteil gewachsen. In einigen dieser Gemeinden sind im Rahmen von Grossprojekten mehrere Hundert neue Wohnungen entstanden, in denen viele Familien ein Zuhause gefunden haben. In vielen ländlichen Gemeinden im Zürcher Weinland und im Zürcher Oberland hingegen nimmt der Anteil Familienhaushalte ab. Sie werden ihrem Ruf des bei Familien so beliebten ländlicheren Idylls nicht ganz gerecht.
Der Familienanteil hat in Zürich und in den umliegenden Gemeinden zugenommen
Familien auf engem Raum
Für städtisches Wohnen gehen Familien im Bezug auf die Platzverhältnisse einen Kompromiss ein. Sie haben aufgrund ihrer Haushaltsgrösse generell weniger Wohnfläche pro Person zur Verfügung als Single- oder Paarhaushalte. In Gemeinden, in denen im betrachteten Zeitraum der Familienanteil zunahm, geben sich Familien aber mit besonders wenig Wohnraum zufrieden. In der Stadt Zürich leben Familien mit 28 m2 pro Person auf sehr knappem Raum (siehe untenstehende Grafik). In Stallikon und Rümlang ist die verfügbare Fläche ebenfalls vergleichbar gering. Mehr Raum haben Familien in den Gemeinden Küsnacht und Zollikon (38 m2). Diese Gemeinden ziehen einkommensstarke Haushalte an, die sich ein zusätzliches Zimmer leisten können. Am meisten Platz haben Familien in ländlichen Gemeinden. In Berg am Irchel verfügt eine Person in einem Familienhaushalt über 46 m2. Angesichts der deutlich günstigeren Preise und Mieten können sich Familien hier als Ausgleich für die längeren Pendelzeiten und Versorgungswege mehr Wohnfläche leisten. Doch die Präferenz des Platzbedarfs scheint sich gerade zugunsten der kürzeren Wege zu verschieben. Die in den letzten Jahren aufgrund von Home-Office viel zitierte Priorität zu grösseren und dafür ländlicheren Wohnungen ist bei den Familien nicht sichtbar.
Tatsächlich ging in Berg am Irchel im betrachteten Zeitraum der Familienanteil um fast 2 Prozentpunkte zurück. In Truttikon, wo Familien grosszügige 42 m2 pro Person zur Verfügung haben, nahm der Anteil sogar um 8 Prozentpunkte ab. Was macht die Stadt Zürich so attraktiv, dass Familien bereit sind, mehr Einschränkungen beim Platz hinzunehmen? Wir haben drei mögliche Faktoren eruiert.
Je weniger Platz, desto grösser die Zunahme des Familienanteils
Durchschnittlich verfügbare Wohnfläche pro Person in m²
Kürzere Pendelwege immer wichtiger
Das Familienleben hat sich in den letzten Jahren verändert. Die klare Rollenaufteilung zwischen den Eltern auf Haushalt und Erwerbstätigkeit ist heutzutage seltener anzutreffen. Immer häufiger arbeiten beide Elternteile. Der hierdurch verstärkte Wunsch, in der Nähe des Arbeitsplatzes zu wohnen, ist der erste mögliche Faktor, warum Familien eher städtisch wohnen möchten. Die durch kürzere Pendeldistanzen gewonnene Zeit erlaubt es, Familienleben, Haushalt und Freizeit unter einen Hut zu bekommen. Die Stadt Zürich bietet mit Abstand die meisten Arbeitsstellen. Aber auch Gemeinden wie Rümlang, Zollikon oder Birmensdorf, die selbst viele Arbeitsplätze haben und zusätzlich über eine gute S-Bahn-Anbindung in die Grossstadt verfügen, können bei erwerbstätigen Eltern punkten.
Bessere Infrastruktur in der Stadt
Wer nicht auf familiäre Unterstützung bei der Kinderbetreuung zählen darf, ist auf externe Betreuung der Kinder während der Arbeitszeit angewiesen. Eine gute Infrastruktur ist womöglich der zweite Faktor, der vor allem erwerbstätige Eltern mit ihren Kindern dazu bewegt, in der Stadt zu wohnen. Denn Zürich hat in dieser Hinsicht ein grosses Angebot. Die nächste Kita liegt im Durchschnitt weniger als 400 m entfernt und ist somit in der Regel problemlos zu Fuss erreichbar. Auch in der Agglomeration und in den Gemeinden am Zürichsee ist das Kita-Angebot sehr dicht und die nächste Tagesstätte oft weniger als einen Kilometer entfernt. Möchte man hingegen in Truttikon oder Berg am Irchel die Kinder in die Kita bringen, beginnt der gefühlte Marathon mit dem Anschnallen im Autokindersitz. Die Kinderbetreuungsstätte liegt in diesen Gemeinden im Durchschnitt über sechs Kilometer entfernt. Schliesst sie bereits früh abends, bedeutet das zumindest für einen Elternteil, den Arbeitsplatz früh wieder zu verlassen.
Ist das schulpflichtige Alter erreicht, brauchen Familien weiterhin Angebote für die Betreuung, wie etwa Tagesschulen oder Ferienlager. Die Stadt Zürich hat das Angebot solcher Dienstleistungen in den letzten Jahren deutlich erweitert. So wissen erwerbstätige Eltern ihre Kinder auch über Mittag oder während der Sommerferien gut versorgt. Hinzu kommt das breite Kultur- und Sportangebot. Die zahlreichen Vereine bieten auch ausserhalb der Schulzeit fast jede Sportart an, während ein dichtes Programm an Konzerten, Theaterstücken oder sonstigen Events den Alltag zusätzlich versüsst. Alle Angebote sind zu Fuss oder mit dem ÖV schnell erreichbar. Können die Kinder ihre Hobbys schon früh selbstständig erreichen, müssen die Eltern seltener Taxi spielen.
Das eigene Haus bleibt ein Traum
Der dritte mögliche Faktor für die Zunahme des Familienanteils in städtischen Gebieten könnte das Wachstum der Preise für Wohneigentum sein. Häufig kommt mit dem Kinderwunsch auch der Wunsch nach dem eigenen Haus oder der eigenen Wohnung. Um sich die Sehnsucht nach mehr Platz und Freiheit zu erfüllen, zogen junge Familien oftmals in ländlichere Gemeinden. Die starke Zunahme der Eigentumspreise in den letzten Jahren hat diese Bewegung aber gebremst. Die Preise für Einfamilienhäuser und Stockwerkeigentum sind nicht nur in den Städten und in den Agglomerationsgemeinden förmlich durch die Decke gegangen. Auch in ländlichen Regionen zeigten die Preise mehrere Jahre nacheinander stark nach oben. Viele Familien können sich heutzutage selbst auf dem Land kein Einfamilienhaus mehr leisten. Tatsächlich hat der Anteil Familien, die in einem Haus wohnen, zwischen 2014 und 2021 um 3,8 Prozentpunkte abgenommen. Familien wohnen heute häufiger als früher in einer Mietwohnung in der Nähe ihres Arbeitsortes.
Genossenschaften sorgen für Familien
Familien können und wollen sich städtisches Wohnen mit dem entsprechenden Kompromiss leisten. Für einkommensschwächere Familien ist das Wohnen in der Stadt jedoch selbst mit den entsprechenden Einschränkungen bei der Wohnfläche unerreichbar. Mit etwas Glück finden sie in gemeinnützigen Wohnungen ein Dach über dem Kopf. Genossenschaften bauen gezielt grosse Wohnungen, bei denen Belegungsvorschriften gelten. Sind die Kinder ausgezogen, müssen meist auch die Eltern in eine kleinere Wohnung ziehen. Jungfamilien profitieren von diesem Angebot nicht nur wegen des tieferen Mietpreisniveaus, sondern auch aufgrund der regeren Fluktuation bei diesen Wohnungen. Es verwundert folglich nicht, dass das Quartierleben gerade dort stark von Familien geprägt ist, wo der Anteil gemeinnütziger Wohnbauten hoch ist (vgl. Grafik unten). Paradebeispiele sind die Quartiere Friesenberg und Saatlen hinter dem Hallenstadion. Hier gehören über 70 Prozent aller Wohnungen Genossenschaften. Der Familienanteil liegt bei über 30 Prozent. In den Quartieren Lindenhof und Rathaus sind dagegen keine gemeinnützigen Wohnungen zu finden und nur wenig Familien. Etwas aus dem Rahmen fällt das Quartier Fluntern. Obwohl es dort nur wenige Genossenschaftswohnungen gibt und die Mieten sich im oberen Segment bewegen, ist jeder vierte Haushalt eine Familie. Offensichtlich beherbergt das Quartier mit seinen grossen Wohnungen eine exklusive Klientel einkommensstarker Familien.
Genossenschaften sind ein Magnet für Familien
Anteil Genossenschaftswohnungen und Familien in den Quartieren der Stadt Zürich im Jahr 2021
Der Wert gemeinnütziger Wohnungen
Die Stadt Zürich und die umliegenden Gemeinden ziehen mit ihrem breiten Angebot an Dienstleistungen und Freizeitaktivitäten Familien an. Hier passenden Wohnraum zu finden, ist aber keineswegs ein Kinderspiel. Am freien Mietwohnungsmarkt ist dafür ein grosses Portemonnaie nötig. Die zum Teil hohen und sogar steigenden Familienquoten an teuren Lagen deuten darauf hin, dass viele Familien die Zahlungsbereitschaft und die nötigen finanziellen Mittel haben, an diesen begehrten Lagen zu wohnen.
Einkommensschwächere Familien sind jedoch immer stärker auf den gemeinnützigen Wohnungsbau angewiesen. Die Stadt Zürich setzt auf die Bereitstellung preisgünstiger Wohnungen gemeinnütziger Wohnbauträgerschaften mit dem Prinzip Kostenmiete, deren Anteil gemäss dem in der Volksabstimmung im Jahr 2011 angenommenen Grundsatzartikel in der Gemeindeordnung bis zum Jahr 2050 auf einen Drittel der Mietwohnungen ausgebaut werden soll.
2021 befanden sich rund 25 Prozent aller Mietwohnungen im Eigentum von gemeinnützigen Wohnbauträgerschaften mit Kostenmiete (so genannte engere Definition). Bei der weiteren Definition werden auch Mietwohnungen von
Stiftungen berücksichtigt, welche nicht die reine Kostenmiete nach Definition der kantonalen Wohnbauförderung anwenden. Der Anteil lag 2019 rund 3 Prozentpunkte höher als bei der engen Definition. Bleibt die bestehende Bautätigkeit auf jetzigem Niveau, bleibt der Weg zum Drittelsziel anspruchsvoll.
Der Fokus der Politik sollte darauf gerichtet sein, Wohnbau zu ermöglichen. Denn: Wird der Nachfrageüberhang zu extrem, wird der Immobilienmarkt nicht mehr richtig funktionieren. Wer bereits eine Stadtzürcher Wohnung hat, wird diese sehr ungern wieder verlassen. Die Liquidität älterer Wohnungen geht zurück, und grosse Wohnungen kommen immer seltener auf den Markt. Damit ist den Familien schlussendlich erst recht nicht gedient. Die Politik sollte behutsam sein, die in den letzten Jahren gewonnene Durchmischung bei der Haushaltsstruktur nicht wieder aufs Spiel zu setzen.