Wohnungs­neubau – ein Hürdenlauf

Die hitzig geführte politische Debatte um das Thema Wohnungsnot benötigt datenbasierte Fakten. Wie kann es sein, dass zu wenig gebaut wird, wenn überall Baukräne den städtischen Horizont zieren? Wie dramatisch sind die Rahmenbedingungen für den Wohnbau tatsächlich? Wir ordnen ein.

Text: Ursina Kubli und Ingrid Rappl, Analytics Immobilien

Huerdenlauf
Einsprache ist die fünfte Landessprache. (Illustration: JoosWolfangel)

Die zunehmende Knappheit am Schweizer Mietwohnungsmarkt ist eines der am heissesten diskutierten politischen Themen. Auf den ersten Blick scheint die Situation nicht dramatisch. Per Stichtag 30. Juni 2022 standen landesweit fast 53’000 Mietwohnungen leer. Man könnte versucht sein, sich zu fragen, wo denn das Problem sei. Das wäre allerdings so falsch, wie wenn man behaupten würde, es herrschten perfekte Körpertemperaturverhältnisse, obwohl der Kopf glüht und die Füsse eiskalt sind. In Zürich ist die Mietwohnungssuche schon lange kein Kinderspiel. Inzwischen weht aber ein wirklich rauer Wind, Leerwohnungen gibt es praktisch keine. Wer Mietinserate studiert, sollte sich besser kurz versichern, ob es diese Wohnungen tatsächlich gibt und die Mieten plausibel sind. Fake-Inserate zum Erschleichen persönlicher Daten oder von «Anzahlungen» bei Immobilieninseraten wurden ein lästiges Thema. Selbst in ländlicheren Regionen, die noch vor wenigen Jahren aufgrund steigender Leerstände Schlagzeilen machten, füllen sich die Mietwohnungen allmählich. Huttwil wurde als Gemeinde mit dem grössten Anteil leer stehender Wohnungen über Nacht berühmt. Doch auch da sind die Leerstände längst nicht mehr dramatisch. Wie kann es sein, dass sich das Blatt innerhalb so kurzer Zeit gewendet hat?

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In einem funktionierenden Mietwohnungsmarkt sollte die Entwicklung von Angebot und Nachfrage idealerweise die gleiche Dynamik aufweisen. Das ist aber in der Schweiz aktuell nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. Angebot und Nachfrage weisen derzeit sogar entgegengesetzte Vorzeichen auf. Während die Bevölkerung aufgrund der Zuwanderung kräftig wächst, sind rund ein Viertel weniger Neubauwohnungen in der Pipeline, als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war. Noch leer stehende Wohnungen werden rasch absorbiert. Wird bei der Bautätigkeit nicht das Steuer herumgerissen, laufen wir in der Schweiz mit offenen Augen in eine Wohnungsnot. Daher ist es notwendig, dass die politische Debatte geführt und Lösungen gefunden werden. Angesichts der hohen Emotionalität dieses Themas sind indes datengestützte Fakten unabdingbar.

Bauindustrie bremst auch da, wo Wohnraum knapp ist

Man kann sich zu Recht fragen, weshalb der Bausektor in Zeiten des Anlagenotstands nicht mehr Baugesuche einreichte. Teilweise war der Rückgang eine Reaktion auf die lokal hohen Mietwohnungsleerstände. In Gemeinden mit einer Mietwohnungsleerziffer von über 2,5 Prozent gingen die Baugesuche 2020 innerhalb eines Jahres um über 20 Prozent zurück. Sie befinden sich aktuell rund 25 Prozent unter dem Niveau von 2019, als sich die Bauindustrie noch in Hochkonjunktur befand. Angesichts der damaligen Leerstände war die moderatere Bautätigkeit in der Peripherie zu begrüssen. Doch auch in Gemeinden mit einem knappen Mietwohnungsangebot wurden weniger Wohnungen geplant. Investorenseitiges Interesse hat an diesen begehrten Wohnlagen aber mit Sicherheit nicht gefehlt. In der Negativzinsphase hatten institutionelle Investoren und private Eigentümer grossen Anreiz, das Potenzial ihrer Liegenschaften sowie die vorhandenen Ausnützungsreserven zu nutzen. Der Rückgang der Bautätigkeit hängt vielmehr mit den baulichen Rahmenbedingungen zusammen.
 

Bauindustrie bremst breitflächig

Schweizer Miet-Neubaugesuche nach Mietwohnungsleerziffer, 2019=100
 

Bauindustrie
Quellen: Baublatt, Zürcher Kantonalbank

Bauherren brauchen Geduld und Nerven

Zentral für den Rückgang der Bautätigkeit ist unter anderem der grosse Widerstand in der Bevölkerung gegen die Verdichtung. Die Grundpfeiler des revidierten Raumplanungsgesetzes würden wohl die meisten unterschreiben. Die Schweiz soll nicht flächendeckend zubetoniert werden. Vielmehr sollen Erholungszonen geschützt und die Zersiedelung gestoppt werden. Um das künftige Bevölkerungswachstum zu stemmen, wird in den Zentren eine immense Wohnbauaktivität nötig sein. Doch damit beginnen die Probleme. Das als «Not in My Backyard», oder kurz NIMBY, bekannte Phänomen trifft den wunden Punkt. Geschieht das Wohnungswachstum vor der eigenen Haustür, regt sich Widerstand. Einsprachen werden in der Schweiz nicht umsonst als fünfte Landessprache bezeichnet. Die damit einhergehende wachsende Zahl an Auflagen, die bei der Bauplanung zu diversen Ehrenrunden führen, zieht die Bewilligungsdauer massiv in die Länge. In der Schweiz verstreichen zwischen Baugesuch und -bewilligung 140 Tage. Die Tendenz ist klar steigend. Die Bewilligungsdauer hat seit 2010 um etwa 70 Prozent zugenommen. Je stärker sich die Wohnbautätigkeit auf bereits besiedelte Flächen konzentriert, desto grösser ist der Widerstand und desto langwieriger werden die Bauprozesse. Im urbanen Kanton Zürich müssen sich die Bauwilligen mit 170 Tagen daher noch länger gedulden. Wer in der Stadt Zürich ein Baugesuch einreicht, braucht einen langen Atem. Hier dauert der Prozess im Schnitt fast 11 Monate. Das Plus von 136 Prozent seit 2010 verheisst auch bezüglich Dynamik nichts Gutes. Wer in Zürich die Rahmenbedingungen im Wohnungsbau beklagt, darf getrost seinen Blick auf die Auswertungen im Kanton Genf lenken. Hier dauert es im Durchschnitt sagenhafte 500 Tage, bis ein Bauvorhaben grünes Licht bekommt. Das Genfer Beispiel zeigt, dass es offenbar noch schlimmer geht.
 

Langwierige Bauprozesse Tabelle
Quellen: Baublatt, Zürcher Kantonalbank

Einsprache ist die fünfte Landessprache

Flattert die Baubewilligung nach langer Geduldsprobe endlich herein, könnte man meinen, es sei an der Zeit, die Champagnerkorken knallen zu lassen. Doch die Realität sieht anders aus. Bereits baubewilligte, mit den Behörden breit abgestimmte Wohnbauprojekte können aufgrund erfolgreicher Rekurse in letzter Minute gekippt werden. Das Bauvorhaben der Swisscanto-Anlagestiftung an der Bederstrasse im Stadtzürcher Quartier Enge ist ein prominentes Beispiel. Um zu quantifizieren, wie viele Bauvorhaben dasselbe Schicksal teilen und wie viele Wohnungen dadurch pro Jahr nicht gebaut werden, haben wir sämtliche bewilligten Wohnungsneubauprojekte seit 2010 untersucht. Nach Verortung der Baustellen konnten wir prüfen, ob in einem Umkreis von 50 Metern gemäss Gebäude- und Wohnungsregister ein neues Wohngebäude entstanden ist. Mit dieser Umkreissuche dürften wir die Anzahl nicht realisierter Projekte eher unter- als überschätzen. Unsere Analyse zeigt, dass das Projekt an der Bederstrasse keineswegs ein Einzelfall ist. Vielmehr wurden in der Schweiz trotz Baubewilligung rund 10 Prozent der Bauprojekte bis heute nicht realisiert. Jährlich gehen dem Schweizer Mietwohnungsmarkt dadurch im Schnitt mindestens 4’000 Wohnungen verloren – Tendenz steigend. Der neueste Datenpunkt von 2020 ist zwar mit einer gewissen Vorsicht zu geniessen, da sich vor drei Jahren bewilligte Grossprojekte aufgrund der längeren Entwicklungszeit noch im Bau befinden könnten. Doch auch ohne 2020 kommt die Zunahme nicht realisierter Wohnbauprojekte klar zum Ausdruck. Dies dürfte mit der heutzutage rigiden Umsetzung der Lärmschutzbestimmungen zusammenhängen. Diesbezüglich war der Bundesgerichtsentscheid vor sieben Jahren wegweisend. Während bei der Umsetzung der Lärmschutzvorschriften mit der Lüftungsfensterpraxis früher pragmatische Lösungen gefunden wurden, ist das heute nicht mehr der Fall. Lärm bietet seither einen regelrechten Steilpass, um gegen Wohnbauprojekte in Verdichtungsräumen vorzugehen. Die Einsprache ist in der Schweiz eine Sprache mit hoher Wirkung.
 

Immer mehr Wohnungen werden trotz Baubewilligung nicht realisiert

Schweiz: Anzahl nicht realisierte Wohnungen nach Bewilligungsjahr
 

Baubewilligungen
Quellen: Baublatt, Gebäude- und Wohnungsregister, Zürcher Kantonalbank

Abbau der Hürden!

Es handelt sich also nicht nur um ein notorisches Jammern der Bauakteure. Vielmehr ist der Wohnbau zu einem regelrechten Hürdenlauf geworden. Hat man ein Hindernis überwunden, steht in der Regel bereits ein nächstes da. Um einen sportlichen Hürdenlauf zu meistern, braucht es langen Atem, Beweglichkeit, Koordination und einen guten Rhythmus. Ähnlich komplex ist die Realisierung eines Wohnungsneubaus. Grössere Akteure sind hier im Vorteil. Ist bei ihnen ein Projekt blockiert, können sie die personellen und finanziellen Ressourcen stattdessen auf ein anderes Bauvorhaben lenken. Nebenbei braucht es aber gute baujuristische Kenntnisse, einen direkten Draht zur Baubehörde und zudem Takt und Verhandlungsgeschick, um die Nachbarn abzuholen. Wer einen Neubau plant, wird sich gut überlegen, ob er sich auf dieses Abenteuer einlassen will. In Zeiten von höheren Bau- und Fremdfinanzierungskosten gilt dies umso mehr. Der zukünftige Fokus der Politik sollte klar auf dem Abbau der Hürden liegen. Die diskutierten Anpassungen der Lärmschutzbestimmungen und die geplante Rückkehr zur sogenannten Fensterlüftungspraxis gehen in die richtige Richtung. Man wird jedoch darauf achten müssen, dass nicht andere Einsprachegründe wie zum Beispiel «passt nicht ins Ortsbild» vermehrt Gewicht erhalten. Schlussendlich wird man sich die Frage stellen müssen, welche individuellen Bedürfnisse geschützt werden sollten.
 

Neubau auf Kosten alter Wohnungen

Bauen auf der grünen Wiese war gestern. Wo heute gebaut wird, steht in der Regel bereits ein Wohngebäude.

Neubau

Damit der Wohnungsbestand um 100 steigt, müssen in der Schweiz 119 Wohnungen gebaut werden. Im Kanton Zürich sind es sogar 144 Wohnungen. 

Paradox der vielen Baukräne

Wer beim Pendeln den Blick aus dem Fenster wirft, dürfte sich vielleicht wundern: Überall stehen Baukräne. Wie ist es möglich zu behaupten, es werde zu wenig gebaut? Während viele wissen, dass die Nettozuwanderung im letzten Jahr stärker war als in den Vorjahren, ist man sich zwei weiterer Argumente womöglich weniger bewusst. Der Rückgang der Baugesuche zeigt nicht nur wegen der starken Zuwanderung in die falsche Richtung. Auch sonst bräuchte es mehr neue Wohnungen als früher. Konzentriert sich der Wohnbau wie im Raumplanungsgesetz vorgesehen auf die Verdichtungsräume, wird immer weniger auf der grünen Wiese gebaut. Die Umnutzungen der grossen Industrieareale sind mehrheitlich realisiert. Stattdessen spielen Ersatzneubauten eine zunehmend wichtige Rolle. Es gehen also bei vielen Neubauten alte Wohnungen verloren, sodass die Wohnbautätigkeit nicht in gleichem Masse zu einer Erhöhung des Wohnungsbestands führt. Ein Zahlenbeispiel zeigt dies auf: Damit der Wohnungsbestand in der Schweiz um 100 Wohnungen steigt, müssen heutzutage 119 Wohnungen gebaut werden. Im urbanen Kanton Zürich ist die Differenz zwischen Wohnbautätigkeit und der damit verbundenen Bestandsausweitung noch viel grösser. Heutzutage müssten 144 Neubauwohnungen entstehen, damit der Wohnungsbestand um 100 Wohnungen steigt. Und der Effekt zwischen der Brutto- und der Nettobautätigkeit nimmt weiter zu. Oder anders gesagt: Es müssten mehr Neubauwohnungen entstehen, damit der Wohnungsbestand im gleichen Ausmass steigt.
 

Einpersonenhaushalte im Trend

Schweizer Haushaltsstruktur nach Anzahl Personen
 

Einpersonenhaushalte
Quellen: BfS, Zürcher Kantonalbank

Die demographischen Entwicklungen führen ebenfalls dazu, dass der Rückgang der Wohnbaugesuche in der Realität noch akzentuierter ausfällt, als er ohnehin schon ist. Aufgrund der zunehmenden Alterung der Gesellschaft wohnen immer mehr Personen allein. Die Megatrends Urbanisierung und Individualisierung verstärken diese Entwicklung. Single-Haushalte sind seit den 90er-Jahren die häufigste Haushaltsform. Währenddessen ging der Anteil von Haushalten mit drei oder mehr Personen kräftig zurück. Single-Haushalte werden künftig das stärkste Wachstum erfahren. Der Wohnflächenbedarf pro Person dürfte deshalb weiter steigen. Die Rechnung ist einfach. Je mehr Haushalte das Bevölkerungswachstum umfasst, umso grösser ist der Wohnungsbedarf. Der Schein trügt. Obwohl Baukräne den städtischen Horizont zieren, entstehen derzeit zu wenig Wohnungen.

Fazit

Der Schweizer Mietwohnungsmarkt befindet sich auf keinem guten Weg. Wer auf der Suche nach einer Mietwohnung ist, wird besonders betroffen sein. Das geringe Angebot führt zu immer höheren Anfangsmieten. Aber auch bestehende Mieter werden längst nicht mehr nur aufgrund der bevorstehenden Referenzzinssatzerhöhungen nervös. Vielmehr wissen sie, was sie zu verlieren haben, sollte ihnen die Wohnung aufgrund von Eigenbedarf oder einer Totalsanierung gekündigt werden. Wer eine Wohnung hat, gibt diese in Zukunft kaum mehr her. Selbst bei einem Stellenwechsel wird der Wohnort nach Möglichkeit beibehalten, und es werden stattdessen längere Pendeldistanzen akzeptiert. Eine Zunahme des Verkehrs ist die logische Konsequenz. Die Wohnungsnot geht alle Mieter und schlussendlich die ganze Gesellschaft an. Umso wichtiger ist es, den heutigen Kurs anzupassen.