Wer bekommt wie viel? Erblasser haben bald mehr Freiheiten

Ab 2023 gilt ein revidiertes Erbrecht. Wer sein Erbe mittels Testament individuell regelt, kann künftig über mindestens die Hälfte seines Vermögens frei verfügen. Was die Neuerungen konkret bedeuten, erklärt Stefan Reinhard, Leiter Erbschaften und Stiftungen bei der Zürcher Kantonalbank.

Interview: Sarah Hadorn / Bilder: Flavio Pinton

«Wer seinen Konkubinatspartner begünstigen will, soll künftig mehr Spielraum haben. Das gilt ebenso für die Absicherung von Stiefkindern», Stefan Reinhard, Leiter Erbschaften & Stiftungen Zürcher Kantonalbank.
«Wer seinen Konkubinatspartner begünstigen will, soll künftig mehr Spielraum haben. Das gilt ebenso für die Absicherung von Stiefkindern», Stefan Reinhard, Leiter Erbschaften & Stiftungen Zürcher Kantonalbank.

Im Dezember 2020 hat das Parlament das Schweizer Erbrecht reformiert. Warum?

Stefan Reinhard: Das geltende Erbrecht trat 1912 in Kraft und ist seither nur punktuell revidiert worden. Es ist auf das traditionelle Familienmodell ausgerichtet: auf verheiratete Paare mit leiblichen Kindern. Das ist nicht mehr zeitgemäss. Heute gibt es viele andere Formen des Zusammenlebens – unverheiratete Lebenspartner mit oder ohne Kinder sowie Patchwork-Familien zum Beispiel.

Was ändert sich mit dem neuen Erbrecht?

Der Erblasser kann in Zukunft freier über sein Vermögen verfügen und seine Liebsten absichern. Wer beispielsweise seinen Konkubinatspartner begünstigen will, hat jetzt mehr Spielraum. Das gilt ebenso für die Absicherung von Stiefkindern.

Diese Personen haben aber nach wie vor keinen gesetzlichen Erbanspruch.

Das stimmt. Anders als die gesetzlichen Erben – wie beispielsweise Ehepartner, Kinder, Eltern – muss der Erblasser sie testamentarisch als Erben einsetzen. Dafür steht ihm neu aber ein grösserer Teil seines Vermögens zur Verfügung; das war das Hauptziel der Gesetzesrevision.

Wie hat man dieses Ziel erreicht?

Durch die Reduktion der Pflichtteile. Dies sind Mindestanteile am Erbe, auf die Nachkommen, Ehegatten, eingetragene Partner und Eltern Anspruch haben. Bei Nachkommen sind heute drei Viertel ihres gesetzlichen Erbanspruchs pflichtteilsgeschützt. Künftig ist es nur noch die Hälfte. Der Pflichtteil für die Eltern entfällt ganz. Jener des Ehepartners und des eingetragenen Partners bleibt unverändert bei der Hälfte des gesetzlichen Erbanspruchs. Wer seinen Nachlass mittels Testament entsprechend seinen Wünschen regeln möchte, wird in Zukunft also weniger stark durch Pflichtteile eingeschränkt.

Und wenn ich kein Testament verfasse?

Dann legt das Gesetz fest, wer wie viel erbt. Die gesetzlichen Erbteile sind nicht von der Revision betroffen. Sie bleiben unverändert.

Ab wann gilt das neue Erbrecht?

Es tritt am 1. Januar 2023 in Kraft. Wer über seinen Nachlass bereits letztwillig verfügt hat, erhält bis dahin Zeit, sein Testament einer Fachperson zur Überprüfung vorzulegen.

Warum ist eine Überprüfung der bestehenden Regelung im Hinblick auf die Gesetzesrevision ratsam?

Sind zum Beispiel die leiblichen Kinder zugunsten eines Stiefkindes auf den Pflichtteil gesetzt, gilt es zu prüfen: Ist die Pflichtteilssetzung der eigenen Kinder nach Inkrafttreten des neuen Erbrechts weiterhin gewünscht, wenn ihr Anspruch nur noch die Hälfte anstatt drei Viertel des Nachlasses beträgt und das Stiefkind die andere Hälfte erhält, oder müssten die Erbanteile angepasst werden? Oder ganz generell: Gibt es Formulierungen, die unter den revidierten Bestimmungen missverständlich oder unklar sein könnten? Am besten bespricht man diese Fragen mit einem Erbschaftsexperten. Auch wer heute eine neue Erbregelung treffen möchte, sollte die neuen Gesetzesbestimmungen bereits berücksichtigen, damit nach Inkrafttreten des neuen Rechts keine Anpassungen mehr erforderlich sind. Unabhängig davon sollte man seine Nachlassplanung so oder so von Zeit zu Zeit überprüfen, zumal sich die familiäre oder finanzielle Situation wie auch die eigenen Wünsche im Laufe der Zeit verändern können.

Und wann sollte man damit beginnen, seinen Nachlass zu regeln?

Einen «richtigen» Zeitpunkt dafür gibt es nicht. Doch je früher man die eigene Nachlassregelung anpackt, desto eher hat man die Gewissheit, für seine Liebsten vorgesorgt zu haben. Dies gibt einem ein gutes Gefühl.

Mehr Flexibilität beim Vererben

Sarah Hadorn
Sarah Hadorn
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Zwei weitere wichtige Neuerungen neben den reduzierten Pflichtteilen sind:

  • Wird einem Ehegatten neben gemeinsamen Kindern testamentarisch die Nutzniessung am Nachlass eingeräumt, beträgt die daneben frei verfügbare Quote – welche ebenfalls dem Ehepartner zugewendet werden kann - neu die Hälfte anstatt einen Viertel des Nachlasses.
  • Wenn heute ein Ehegatte während eines Scheidungsverfahrens stirbt, behält der überlebende Ehegatte seinen gesetzlichen Erb- und Pflichtteilanspruch. Das revidierte Recht sieht vor, dass die Ehegatten ihren gegenseitigen Pflichtteilsanspruch bereits bei der Rechtshängigkeit eines Scheidungsverfahrens unter bestimmten Voraussetzungen verlieren, nicht aber das gesetzliche Erbrecht. Dies ermöglicht jedem Ehegatten, den anderen mit einem Testament vom Erbe auszuschliessen.