Eigensinnig

Wasser ist allgegenwärtig: Wir trinken es, waschen damit, baden darin. Doch Wasser ist alles andere als gewöhnlich. Seine Zusammensetzung verleiht ihm vielerlei Eigenschaften, die vom physikalisch Erwartbaren gängiger Stoffe abweichen. Es sind diese Eigenheiten, die massgeblich dafür sorgen, dass auf der Erde Leben möglich ist. Physiker Dr. Rolf Kipfer, Professor für Wasserressourcen und Trinkwasser am Wasserforschungsinstitut Eawag und an der ETH Zürich, gibt Einblick in die Einzigartigkeit des Lebenselixiers Wasser.

Text: Simona Stalder / Bilder: Philoteus Nisch | aus dem Magazin «ZH» 1/2024

Foto eines Eisblocks

Hohe Schmelz- und Siedetemperatur

Wasser ist der einzige anorganische Stoff, der auf der Erde von Natur aus in den Aggregatzuständen flüssig, fest und gasförmig vorkommt. Auf Meereshöhe schmilzt Eis bei 0 °C, Wasser verdampft bei 100 °C. Damit liegen Schmelz- und Siedetemperatur von Wasser viel höher als bei anderen Stoffen mit kleinen Molekülen, welche typischerweise sehr flüchtig sind, wie Methan oder Kohlendioxid. Wäre Wasser ähnlich flüchtig, gäbe es auf der Erde kaum flüssiges und festes Wasser – und kein Leben. «Der Grund für die hohe Schmelz- und Siedetemperatur von H2O liegt in seinem Dipolcharakter. Die Wasserstoffatome (H) haben eine positive Teilladung, das Sauerstoffatom (O) hat eine negative. Sauerstoff- und Wasserstoffatome verschiedener Wassermoleküle ziehen sich deshalb an, es entstehen Wasserstoffbrücken. Um diese Interaktion zwischen den Molekülen zu lösen, braucht es sehr viel Energie in Form von Wärme», sagt Rolf Kipfer

Bild einer Wolke von Wasserdampf

Hohe Wärmekapazität

Die Wasserstoffbrücken verleihen Wasser eine sehr hohe Wärmekapazität und eine hohe latente Wärme. Um einen Liter Wasser um 1 °C zu erwärmen, muss ihm thermische Energie von fast 4,2 Kilojoule zugeführt werden – viermal mehr als bei Luft und doppelt so viel wie bei Benzin. Grosse Gewässer wirken deshalb stabilisierend auf die Erdtemperatur. Im Sommer nehmen sie thermische Energie auf, im Winter geben sie sie wieder ab. Kipfer: «Deshalb sind saisonale Temperaturunterschiede in meernahen Gegenden geringer als innerhalb der Kontinente, und West­europa hat – dem Golfstrom sei Dank – ein gemässigt mildes Klima.» Auch die Verdunstung von Wasser benötigt sehr viel Energie: «Global fliessen mehr als 30 Prozent der einfallenden Sonnenenergie in die Verdunstung von Wasser – kein Wunder, ist Wasser das wichtigste Treibhausgas in der Atmosphäre», sagt Kipfer.

Foto eines Eiswürfels

Höchste Dichte bei 4 °C

Für die meisten Stoffe gilt: Kühlen sie ab, rücken ihre Moleküle näher zusammen – ihre Dichte steigt, ihr Volumen nimmt ab. Wasser verhält sich anders. Seine Dichte steigt nur bis zu einer Temperatur von 4 °C. Kühlt es weiter ab, sinkt sie wieder. Die Gründe hierfür sind tief in den quantenphysikalischen Eigenschaften von Wasser verankert. Anschaulich erklärt: Beim Gefrieren formieren sich Wassermoleküle mittels der Wasserstoffbrücken zu einem wabenförmigen Gitter. Die Abstände zwischen den Molekülen sind dabei grösser als in flüssigem Zustand. Deshalb ist Eis leichter als Wasser. «Für das Leben in Gewässern», so Kipfer, «ist das extrem wichtig. Im Winter sinkt Wasser auf den Grund eines  Gewässers, sobald es sich auf 4 °C abgekühlt hat. An der Wasseroberfläche schützt das Eis das Gewässer vor weiterer Abkühlung und die Wasserlebewesen vor dem Einfrieren im Eis.»

Symbolbild für die Lösungskraft von Wasser.

Extremes Lösungsmittel

Der Dipolcharakter macht Wasser zu einem wichtigen, aber selektiven Lösungsmittel. Es löst polare Stoffe wie Zucker extrem gut, apolare wie Fette hingegen kaum. Der Grund: Polare Stoffe lassen sich in ihre unterschiedlich geladenen Einheiten auftrennen. Kochsalz etwa besteht aus positiv (Natrium) und negativ (Chlorid) geladenen Ionen. Im Wasser werden die Natrium-Ionen von den Sauerstoffatomen der Wassermoleküle angezogen und umschlossen, die Chlorid-Ionen von den Wasserstoffatomen – das Salz löst sich auf. «In einem Liter Wasser können rund 400 Gramm Salz oder zwei Kilogramm Zucker gelöst werden», sagt Kipfer. «In der Natur – auch im Menschen – werden so Nährstoffe dorthin transportiert, wo sie gebraucht werden. In Wasser lösen sich jedoch auch unerwünschte Stoffe. Trinkwasserversorgung und Abwasseraufbereitung sind deshalb zentrale Forschungsschwerpunkte der Eawag.» eawag.ch

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