«Einen Stadt-Land-Graben gibt es nicht»

Schon immer wechselten die Menschen ihre Lebensräume zwischen Stadt und Land. Die Raumplanungsexpertin Dr.  Gabriela Debrunner von der ETH Zürich forscht über die Gründe für die Bewegungen, die Ideen der Bewegenden und die Motive der Bewegten.

Interview: Patrick Steinemann / Bilder: Joël Hunn | aus dem Magazin «ZH» 2/2023

Gabriela Debrunner an der ETH Hönggerberg
«In der Schweiz überlegen sich die Menschen sehr gut, wo ihr Haus oder ihre Eigentumswohnung sein soll»: Gabriala Debrunner.

Sog der Stadt, Flucht aufs Land: Weshalb wechseln die Menschen immer einmal wieder ihren Wohn- und Lebensraum?

Es gibt nicht den einen Grund. In der Forschung konstatieren wir in den letzten 100 Jahren verschiedene Stadtentwicklungsphasen und verschiedene Auslöser für Bevölkerungsbewegungen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine starke Industrialisierung, neue Technologien kamen auf. Damit veränderten sich auch die Arbeitsplätze – und diese waren neuerdings in der Stadt zu finden. Eine erste Urbanisierung setzte ein.

Währte es lange, das Glück in der Stadt?

Nun ja, es wurde bald einmal zu eng in der Stadt. Hinzu kamen hygienische Missstände, die Abgase wurden mehr und die Luft schlechter. Dadurch setzte in den 1960er-Jahren eine Suburbanisierung ein, die Menschen zogen wieder aus der Stadt weg. Sie wollten ins Grüne, zwar nicht zurück ins gänzlich Ländliche, aber zumindest ins Stadtrandgebiet. Das Konzept nannte sich Gartenstadt: Einfamilienhäuser mit Grün ringsherum.

Der Tiefpunkt der Städte war da aber noch nicht erreicht …

Dieser kam in den Schweizer Städten, vor allem in Zürich, erst in den 1980er/ 1990er-Jahren: Mit der Stadtflucht entleerten sich die Innenstädte. In vielen Städten stiegen durch diese Desurbanisierung die Kriminalitätsraten oder es kam zu einer offenen Drogenszene.

Wann schwappte die Bevölkerungswelle vom Land zurück in die Stadt?

Seit den 2000er-Jahren stellen wir in der Schweiz eine Reurbanisierung fest, erste Pioniere suchten wieder städtisches Leben. Damals gab es günstige Mieten in den Kernzonen der Städte. Zudem wurden ab den 2010er-Jahren die grossen städtischen Industriebrachen in Wohn- und Dienstleistungsraum transformiert, in Winterthur etwa das Sulzer-Areal, in Zürich das Escher-Wyss-Areal. Heute ist die Phase der Industriearealtransformationen vielerorts vorbei, vor allem aber in Zürich. Die grossen Städte sind mehrheitlich bebaut, es gibt kaum noch leer stehende Flächen. Gleichzeitig bleibt die Nachfrage nach städtischen Wohnungen hoch. Diese Verknappung des Bodens bei ansteigender Wohnungsnachfrage wirkt sich auch auf die Mieten aus. Gleichzeitig sorgt das Spiel von Angebot und Nachfrage für neue Bevölkerungsbewegungen.

Gibt es einen gemeinsamen Nenner hinter all diesen Bewegungen?

In der Geografie sprechen wir von den Daseinsgrundfunktionen, welche wir Menschen befriedigen wollen: Dazu gehören etwa Arbeiten und Wohnen, aber auch Einkaufen, Bildung und Erholung. Diese Funktionen können teilweise unterschiedlich ausgestaltet sein. So kann Erholung bedeuten, in einen Park zu gehen; sie steht aber auch für die Nutzung des kulturellen Angebots. Zur Kultur wiederum gehören auch Vereinsstrukturen und das Zusammenleben innerhalb eines Ortes.

Gabriela Debrunner an der ETH Hönggerberg
«Eine hybride Form des Lebens und Arbeitens wird wohl eine längere Zeit bestehen bleiben»: Gabriela Debrunner auf dem Gelände der ETH Hönggerberg.

Spielt auch der Anteil an Wohneigentum eine Rolle, wie sesshaft die Bevölkerung ist?

Ja, aber nicht unbedingt so, wie wir uns das im ersten Moment vorstellen mögen. Länder wie Schweden, Grossbritannien und Italien haben zwar eine höhere Eigentumsquote als die Schweiz. Junge nehmen da schon während des Studiums eine Hypothek auf, um sich ein Haus oder eine Wohnung zu leisten. Trotzdem besteht in diesen Ländern häufig ein geringerer Bezug zum Eigentum; eine Immobilie wird je nach Bedarf nach ein paar Jahren auch wieder verkauft und die Bewohnerinnen und Bewohner ziehen weiter.

Und in der Schweiz?

Die Schweiz, aber auch Deutschland oder Österreich sind mehrheitlich Mieterländer. Eigentum können sich die meisten Menschen hier erst in einer späteren Lebensphase leisten. Das hat aber auch mit den Kriterien zur Vergabe von Hypotheken zu tun – die Anforderungen bei uns sind strenger. Die Menschen überlegen es sich deshalb auch sehr gut, wo ihr Haus oder ihre Eigentumswohnung sein soll. Und wer dann im eigenen Heim wohnt, bleibt häufig auch dort und übergibt die Immobilie vielleicht sogar an die nächste Generation. Im Mieterland Schweiz ist der Eigentumsmarkt deshalb stabiler als anderswo.

Die Raumforscherin

Dr.  phil. nat.  Gabriela Debrunner (32) ist promovierte Geografin und Umweltsozialwissenschafterin mit Fokus Stadt- und Raum­planung. Sie arbeitet als Postdoktorandin und Research Associate am Institut für Raum- und Landschaftsentwicklung der ETH Zürich. Vor ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit an der ETH arbeitete Gabriela Debrunner unter anderem für das Raumplanungsbüro IVO Innenentwicklung AG, die Regionalplanung Zürich und Umgebung (RZU), die Arbeits­gemeinschaft für die Berggebiete und ländlichen Räume (SAB) und das Stadtplanungsamt Winterthur. Seit Oktober 2022 ist Gabriela Debrunner zudem selbstständig in mehreren Raumentwicklungsmandaten tätig.

Der Entscheid fürs Land oder für die Stadt verliert heute durch neue hybride Arbeits­formen auch an Schärfe: Arbeitsort und Wohnraum verschmelzen, wir sind mal draussen auf dem Land und dann wieder mitten im urbanen Zentrum.

Die Menschen haben – verstärkt auch durch die Pandemiejahre – das Arbeiten zu Hause für sich entdeckt. Vieles lässt sich so besser vereinbaren, der Tag sich flexibler gestalten. Die Leute wohnen im Grünen und haben gleichzeitig einen Job, der in der Stadt stattfindet. Das zentrale Büro wird jedoch wichtig bleiben, es fördert die Zusammenarbeit, die Inspiration und die Innovation. Diese hybride Form des Arbeitens und Lebens wird wohl über eine längere Zeit bestehen bleiben.

Entschärft sich so auch das Problem des Pendelns zwischen Wohn- und Arbeitsort?

In der Schweiz sind wir sicher privilegiert durch den gut ausgebauten öffentlichen Verkehr. Er ermöglicht es uns, auch von peripheren Orten innerhalb einer halben oder einer ganzen Stunde in die Städte zu gelangen. Der Metropolitanraum Zürich mit rund einer Million Einwohnern reicht somit bis nach Schaffhausen oder Glarus. Und wer nicht jeden Tag pendeln muss, kann dank des neuen Gotthard-Basistunnels sogar das Tessin dazuzählen. So werden auch abgelegenere Lagen zunehmend attraktiv zum Wohnen.

Aber Zürich behält seine Sogwirkung als grösste Stadt der Schweiz?

Mit ihren vielen internationalen Firmen und den grossen Bildungsinstitutionen ist die Agglomeration Zürich sicher nach wie vor eines der bedeutenden wirtschaftlichen Zentren der Schweiz. Wir dürfen aber nicht vergessen: Über 70 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz wohnen in einem städtischen Gebiet. Auch Kleinstädte in eher ländlichen Kantonen gehören zu einem urbanen Gebiet und übernehmen eine Zentrumsfunktion. Urbanisierungs- und Suburbanisierungstendenzen gibt es somit auch in diesen Kontexten. Das hat auch mit der Geografie unseres Landes zu tun: In der Schweiz ist man mit dem Auto oder dem ÖV fast überall innerhalb einer Viertelstunde in einem Zentrum.

Ursprünglich entstand der Gedanke der Verdichtung aus einer ökologischen Sicht: Die unbebaute Landschaft soll geschützt werden und die einzelnen Räume sollen klar definiert sein.

Gabriela Debrunner

Gleichen sich Stadt und Land als soziale Lebensräume in der kleinräumigen Schweiz also immer mehr an?

Auch Städte sind in sich sozialräumlich divers. Es gibt nicht «die» Stadt, genauso wenig wie es «das» Land gibt. Viele Leute bewegen sich in einer Stadt meist nur innerhalb ihres Quartiers und kaufen auch selten woanders ein. Auf Quartierebene und in Bezug auf die Frequenzen der Mobilitätsbewegungen gleicht eine Stadt durchaus einer grösseren Dorfstruktur – einen Stadt-Land-Graben gibt es in dieser Hinsicht also gar nicht. Unterschiede gibt es hingegen bei der Baustruktur und somit auch bei der Einwohner- und Arbeitsplatzdichte.

In der Stadt wird näher zusammengelebt.

Das ist häufig nur gefühlt so. 2019 lebten schweizweit 54 Prozent der Bevölkerung in einer sehr geräumigen Wohnung mit zwei und mehr Zimmern pro Person. Das sind 26 Prozent mehr als 1970. In der Stadt wird sicher mehr in die Höhe gebaut und es gibt mehr Wohnungen pro Fläche, aber nicht unbedingt mehr Personen pro Wohnfläche. Wir müssen also die bauliche Dichte von der Nutzungsdichte unterscheiden.

Wie gross sind die Spielräume der Raumplanung? Die Schweiz ist ja quasi fertig gebaut.

Das revidierte Raumplanungsgesetz von 2013 definiert den Grundsatz, dass keine Neueinzonungen und damit keine Neubauten auf der grünen Wiese ausserhalb bestehender Gemeindegrenzen mehr stattfinden sollen. Es bleibt also nur noch die sogenannte Innenentwicklung, das heisst die Verdichtung innerhalb des bestehenden Siedlungsgebiets. Ursprünglich entstand der Gedanke der Verdichtung aus einer ökologischen Sicht: Die unbebaute Landschaft soll geschützt werden und die einzelnen Räume sollen klar definiert sein.

Verdichtung führt aber häufig zu Konflikten.

Da im bestehenden Siedlungsgebiet in der Regel schon Bauten stehen und Menschen wohnen, bedeutet dies für die Praxis der Raum­planung tatsächlich: Es wird komplizierter. Die Zonenplanung bietet trotzdem noch einen starken Hebel, etwa über Teilrevisionen oder neue Quartierpläne. Es braucht dafür seitens Raum­planung aber mehr strategisches Denken, wie Eingriffe vorgenommen werden können.

Kann Verdichtung überhaupt sozialverträglich erreicht werden?

Unsere Gewohnheit betreffend Nutzungsdichte, also der Wohnfläche pro Kopf, hat hier einen starken Einfluss. Sozialverträgliche Verdichtung hat auch viel mit frühzeitiger Kommunikation und proaktiver Partizipation zu tun: Die richtigen Leute müssen zum richtigen Zeitpunkt an einen Tisch gebracht werden. Häufig sind die Perspektiven gar nicht so unterschiedlich. Auch Investoren möchten lebendige und diverse Quartiere. Die Frage ist aber: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit Bauprojekte von der An- und Bewohnerschaft akzeptiert werden?

Räumliche Entwicklung ist also eine Quadratur des Kreises mit unterschiedlichen Akteuren und Interessen.

Das war schon immer so in der Raumplanung. Die politische Exekutive möchte möglichst viel Einfluss nehmen. Die Verwaltung muss den Spagat schaffen zwischen den politischen Direktiven und den gesetzlichen Vorgaben von Bund und Kanton. Die Eigentümer möchten ihre Freiheiten bei ihren Anlagen und Investitionen gewahrt sehen. Und die Nutzerinnen und Nutzer der Immobilien – dazu gehören auch die Mieterinnen und Mieter – möchten ihre Mitspracherechte ausüben und gleichzeitig vor einschneidenden Veränderungen geschützt sein.

Eigentlich eine unmögliche Situation.

Nicht unbedingt. Denn die Schweiz hat mit ihrem Raumplanungsgesetz in Europa ein Alleinstellungsmerkmal und nimmt eine Vorreiterrolle ein bei der Umsetzung von Innenentwicklungszielen. In anderen Ländern gibt es auf Bundesebene bisher nur Ziele und keine gesetzlichen Vorgaben auf Gemeindeebene. Klar kommt es hier zu Divergenzen zwischen den verschiedenen Ebenen und Akteuren. Aber andere europäische Länder werden folgen und aus der Schweizer Planungspraxis lernen können. Es bleibt spannend.

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