«Wir leben mehr und mehr nebeneinanderher»

Die Welt der anderen ist gleich nebenan – in der Nachbarschaft und in den sozialen Medien. Doch der Kitt, der uns zusammenhält, scheint zu bröckeln. Im Interview spricht Soziologieprofessorin Katja Rost über Normen und Konflikte, über Diskussionskulturen und Parallelgesellschaften. Und darüber, wie die Fliehkräfte zu drosseln sind.

Interview: Patrick Steinemann / Bilder: Marvin Zilm | aus dem Magazin «ZH» 2/2022

Katja Rost, Professorin für Soziologie, Uni Zürich
«Man muss nicht alles mögen, was andere sagen, aber man sollte sich damit auseinandersetzen»: Professorin Katja Rost.

Die Individualisierung beschäftigt uns schon lange. Nun leben wir zusätzlich in sozialen Blasen aller Art. Dominiert heute das Teilende in der Gesellschaft, Frau Rost?

Ich würde eher von einer Aufteilung oder einer funktionalen Differenzierung sprechen: Früher hatte jede und jeder nur eine Rolle oder allenfalls wenige Rollen inne. Heute sind wir Mitglied in einem Verein, in einem Freundesnetzwerk oder Teil einer Universitätsgemeinschaft und verteilen so unsere verschiedenen Identitäten oder Rollen auf verschiedene Organisationen; in der Soziologie verwenden wir deshalb auch den Begriff Organisationsgesellschaft. Heute ist nichts mehr möglich ohne Organisation – vom Geborenwerden bis hin zum Sterben.

Dann sind wir also gar nicht so individualisiert, wie wir immer glauben?

Wir haben das Gefühl, dass wir super-individualisiert sind, doch sind wir eigentlich nur kleine Rädchen in einem grossen Ganzen. Individualisierung ist also eigentlich eine Verkollektivierung, unsere Autonomie ist heute stärker eingeschränkt als früher – wir merken es nur nicht.

Gibt es überhaupt noch so etwas Umfassendes und Vereinendes wie «die Gesellschaft»?

Auf jeden Fall. Im demokratischen Sinne gibt es «die Gesellschaft», die politische Entscheide herbeiführt. Auch Geschlechternormen – wie hat eine «gute Frau» oder ein «guter Mann» zu sein – werden von «der Gesellschaft» definiert. Aber sonst gibt es «die Gesellschaft» so nicht oder nicht mehr, es sind immer Teil­gesellschaften, die auf mich wirken.

Da wird es schwierig mit den gemein­samen, verbindenden Normen …

Weil wir heute so viele Subgruppen haben, unterscheiden sich die sozialen Normen teilweise deutlich: Was für eine Gruppe normativ richtig ist, ist für eine andere völlig falsch. Das führt zu Orientierungsproblemen und Normenkonflikten – die gab es aber schon immer. Früher war die Stellung der Mitglieder in einer Gesellschaft jedoch eher festgelegt: Sie wurden in einen Stand oder eine soziale Gruppe hineingeboren und blieben dann auch darin. Heute machen wir uns Gedanken darüber, ob wir Vegetarier oder Veganer, Klimaaktivistinnen oder Umweltschützerinnen sind – das ist kognitiv anstrengend, meist emotional aufgeladen und oft konfliktbeladen.

Wie äussern sich diese Konflikte?

Der Auslöser von Konflikten ist häufig, dass einzelne der zivilgesellschaftlichen Interessengruppen gegen soziale Normen verstossen. Die Reaktion gegen diese Normenübertretungen kocht dann häufig so hoch, dass auch die Gegengruppe soziale Normen verletzt – und sei es nur die Norm der Höflichkeit. Das Problem ist, dass Drohungen und Aggressionen in Diskussionen oft mit Aufmerksamkeit honoriert werden, etwa in den sozialen Netzwerken.

Mit der Corona-Pandemie scheinen sich die Fronten nochmals verhärtet zu haben.

Entscheidend ist, dass Corona ein gesamtgesellschaftliches Thema war und nicht nur Subgruppen betroffen hat. Die Corona-Debatten haben gezeigt, wie verroht unsere Diskussionskultur heute ist. Weil viele nur ihre eigenen Ansichten und Normen haben gelten lassen, erlebten andere dadurch eine ernsthafte Identitäts- oder Statusbedrohung.

Wer sich bedroht fühlt, reagiert meist heftig …

In Anstandsurteilen werden andere Gruppen deshalb häufig mit krassen Metaphern bedacht, etwa wenn eine Gruppe eine andere als «Nazis» beschimpft. Was in sozialen Medien beginnt, schwappt dann oft in die klassischen Medien über und wird dort nochmals diskutiert.

Katja Rost, Professorin für Soziologie, Uni Zürich
«Drohungen und Aggres­sionen werden oft mit Aufmerksamkeit honoriert»: Katja Rost.

Kommuniziert wird also mehr als genug. Weshalb verstehen wir uns dennoch häufig nicht?

Heute fehlt oft die Tiefe einer Diskussion, weil es nur um eine kurze Schlagzeile geht. Soziale Kanäle wie Twitter stellen Inhalte sehr verkürzt dar, obwohl eigentlich in jeder Diskussion der Kontext sehr wichtig ist. Viele Dinge beurteilen wir anders, wenn wir wissen, in welchem Rahmen etwas stattgefunden hat. Ein weiteres Problem ist, dass wir trotz zunehmender Komplexität in der Gesellschaft oft nur noch auf wenige Informationskanäle oder ein einzelnes Medium fokussieren.

Wir sperren uns also ein in unserer eigenen Informations- und Filterblase.

Kommunikation hat viel mit Gemeinschaft zu tun – ich will etwas wissen, was auch andere in meinem Freundeskreis beschäftigt. Blasenbildung ist also zunächst etwas Rationales, denn ich interessiere mich dann in erster Linie für die gleichen Dinge wie meine Freunde. Die Verschiebung hin zu einer mehr und mehr privaten Kommunikation in den sozialen Netzwerken, wo ich also mein persönliches Menü zusammenstelle, kann aber schwierig werden. Etwa dann, wenn ich nicht mehr das lese, was rational oder gesellschaftlich wichtig wäre, sondern mich nur noch von Emo­tionen leiten lasse.

Ihrem Namen entsprechend sollten Social-Media-Kanäle eigentlich vernetzen statt zersetzen. Wie kann die Kommunikation wieder konstruktiver werden?

Wenn wir das wüssten … Heute wissen wir zwar einiges darüber, weshalb die Kommunikation immer feindlicher wird – etwa wegen des Enthemmungseffekts in Online-Medien, wo die Nutzer häufig anonym unterwegs sind. Wenn wir nicht in reale Gesichter schauen müssen, geht viel Empathie verloren und wir werden aggressiver. Dazu kommt die Low-Cost-Situation: Online zu beschimpfen, kostet mich nicht viel Aufwand und Zeit. An eine Wahlkampfveranstaltung zu gehen und einen Politiker mit einem faulen Ei zu bewerfen, ist schon viel mühsamer. Soziale Medien begünstigen zudem die Gruppenbildung, wenn man gegen einen gemeinsamen Feind ankämpfen kann.

Gewisse Gegenrezepte wurden ja schon ausprobiert …

… haben aber leider meistens nichts genützt. Wenn etwa mit Klarnamen kommuniziert wird, bedeutet das häufig nur noch mehr Aggression – die Leute erhalten dann ganz persönlich das Lob für ihr radikales Verhalten. Auch der Einbezug einer institutionalisierten, sachlichen Gegenrede hilft meist nicht, denn die radikalisierten Kommentatoren werden kaum je auf andere Argumente eingehen, solange ihnen nicht die von ihnen präferierte Lösung geboten wird. Und schliesslich bringt auch der Ausschluss von gewissen Personen aus einzelnen Kanälen nichts, denn dann wächst die Wut ihrer Anhänger nur noch. Zudem ist es auch nicht im Sinne der Demokratie, die ja gerade einen gegenseitigen Austausch der Meinungen beinhaltet. Man muss tatsächlich nicht alles mögen, was andere sagen, aber man sollte sich damit auseinandersetzen.

Isolierte Gruppierungen gibt es nicht nur in der Online-Welt, auch in der ganz realen Nachbarschaft leben die Menschen teilweise ohne jeden Berührungspunkt in Parallelgesellschaften. Ein neues Phänomen?

Aus soziologischer Sicht ist es tatsächlich eher ein neues Phänomen, dass die Kontakte in der realen Nachbarschaft abgenommen haben. Die Menschen gehören heute zudem weniger Vereinen an als früher. Damit verschwindet auch der soziale Kitt in der Gesellschaft. Begonnen hat diese Tendenz zur Vereinsamung in den 1970er-Jahren – und in letzter Zeit scheint er sich verstärkt zu haben.

Weshalb?

Einer der Gründe dafür ist, dass wir heute kaum mehr das Modell einer Dorfgemeinschaft leben oder uns freiwillig engagieren. Dabei wären solche Tätigkeiten essenziell für langfristige, stabile Sozialkapitalbeziehungen in einer Nachbarschaft oder einer Gemeinde. Institutionen wie die Kirche haben einen Bedeutungsverlust erlitten. Dies geht einher mit der Verstädterung und einer zunehmenden Mobilität. Parallelgesellschaften tauchen denn auch am ehesten in urbanen Zentren auf, wo die Menschen nur für eine kurze Zeit wohnen bleiben. Und so leben wir mehr und mehr nebeneinanderher.

Sind auch Gegentrends sichtbar?

Die gibt es. Gerade mit Corona hat sich etwa die Rückbewegung ins Dorf verstärkt. Oder das stete Weiterziehen und weltweite Reisen nimmt im Zuge der Klimabewegung ab – der lokale Schrebergarten ist plötzlich wieder in. Dies fördert lokale Gemeinschaften. Auch in Städten wie Zürich gibt es in einzelnen Quartieren durchaus ein gutes Zusammengehörigkeitsgefühl, etwa weil dort viele Familien wohnen. Generell gilt: Gemeinsame Interessen entstehen nur dort, wo Menschen auch längere Zeit zusammenwohnen und sie quasi die Früchte ernten können, die sie angepflanzt haben. Wenn ich hingegen weiss, dass ich sowieso nur für ein Jahr an einem Ort bin, habe ich auch keinen Anreiz, sozial etwas zu investieren.

Nähe – das Mittel gegen aufspaltende Fliehkräfte?

Heute haben viele Menschen erkannt, dass ihnen Dinge wie häufiges Reisen nicht guttun. Wir beobachten eine Rückwende hin zur Tradition und einen Trend zur Glokalisierung, also zur Besinnung auf das Nahe im globalen Raum. Auch eine gewisse Entschleunigung ist spürbar, heute müssen viele nicht mehr fünfmal umziehen, sondern vielleicht nur einmal. Wenn die Mobilität abnimmt, dann ergibt sich vieles von allein.

Müsste die Politik hier stärker eingreifen?

So etwas wie ein «gesellschaftliches Ingenieurwesen» funktioniert in aller Regel nicht, denn die Gesellschaft macht, was sie will. Oft ist die Politik mit ihren Vorstössen und Initiativen auch zu schnell – oder zu langsam – und bewirkt dann das Gegenteil von dem, was sie eigentlich beabsichtigt hat.

Gilt das auch für die sozialen Medien?

Auch hier besteht die Chance, dass die Gesellschaft dies regelt, ohne dass es einen übergeordneten Regulator braucht. Denn soziale Normen ändern sich mit der Zeit. Die aktuellen Probleme der sozialen Medien rühren auch daher, dass sie einen radikalen Wandel mit sich gebracht haben, an den sich die Menschen noch gar nicht richtig gewöhnen konnten.

Also eine Art Überforderung …

Gerade viele Leute in den Vierzigern oder Fünfzigern, die nicht mit den sozialen Medien aufgewachsen sind, für die die sozialen Medien aber mittlerweile eine Art Hobby geworden sind, sind sich nicht bewusst, was sie mit ihren aggressiven Kommentaren anrichten. Wenn sie dann im direkten Gespräch damit konfrontiert werden, tut es ihnen oft leid.

Machen es die Jungen besser?

Die Jungen wissen meist, wie die sozialen Medien in einem gemeinschaftlich verträglichen Mass zu nutzen sind. Hinzu kommt, dass Themen wie Online-Mobbing heute schon in den Schulen besprochen und damit auch mehr reflektiert werden. Es braucht also vor allem Zeit, damit sich die Menschen an den radikalen kommunikativen Wandel und den damit verbundenen Einfluss auf die Gesellschaft gewöhnen können.

Katja Rost

Die Professorin für Soziologie ist auch Privatdozentin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Zürich. Ihre Schwerpunkte sind Wirtschafts- und Organisationssoziologie, digitale Soziologie und soziale Netzwerke. Die 46-Jährige ist Vizepräsidentin im Universitätsrat der Universität Luzern sowie Präsidentin der Gleichstellungskommission der Universität Zürich.

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