Meeresfieber

Gefangen zwischen Sehnsucht und Realität - lange Zeit wurde der Irrglaube verfolgt, dass der Ozean unzerstörbar ist. Heute wissen wir, dass dem nicht so ist. Wo stehen wir und gibt es Zeichen für ein Umdenken? Lesen Sie die Einschätzung von Nachhaltigkeitsökonomin Silke Humbert.

Text: Silke Humbert

«Als Fazit bleibt: Die Gesundheit des Meeres ist für uns lebensnotwendig», erklärt Silke Humbert. (Bild: Getty Images)

«I must go down to the seas again,
to the lonely sea and the sky,
And all I ask is a tall ship and a
star to steer her by;
And the wheel’s kick and the wind’s song
and the white sail’s shaking,
And a grey mist on the sea’s face,
and a grey dawn breaking.»
John Masefield (1902)

Sea Fever (Meeresfieber) hat John Masefield dieses Gedicht aus dem frühen 20. Jahrhundert genannt. Es beschreibt romantisierend die Sehnsucht nach dem Meer und dem Leben auf hoher See. Hätte John Masefield solch ein Gedicht auch heute noch geschrieben? Vermutlich nicht. Denn die meisten Fischereischiffe fahren heute nicht mit einem weissen Segel aufs Meer hinaus, sondern motorisiert. Die grossen Fischereischiffe bewegen sich gar mit einer Länge von über 200 Metern übers Wasser. Mit Schleppnetzen wird jedes Jahr bis zum Grund des Ozeans gefischt.

Auch hätte sich Masefield vermutlich nicht vorstellen können, dass nur die Hälfte des heute verzehrten Fischs aus dem Fischfang aus offener See stammt und die andere Hälfte aus Aquakulturen analog der Nutztierhaltung an Land. Was sind die Gründe? Die Fischbestände auf hoher See sind stark zurückgegangen und die Ausbeute liegt heute bei nur etwa 6 Prozent von dem, was sie zu Zeiten Masefields war – trotz der Technik. Kein Wunder, kommt die Weltbank zum Schluss, dass die globale Fischerei in der Krise steckt.

Der Irrglaube an den unzerstörbaren Ozean

Ob der Mensch das Ökosystem Ozean überhaupt beeinflussen kann, darüber gab es in der Vergangenheit verschiedene Meinungen. So schrieb der britische Biologe T. H. Huxley Ende des 19. Jahrhunderts: «[….] die grossen Meeresfischgebiete sind vermutlich unerschöpflich: das heisst, dass nichts, was wir tun, die Anzahl der Fische ernsthaft beeinflusst. Und jeder Versuch, die Fischerei zu regulieren, scheint folglich von der Natur der Sache her nutzlos zu sein.»

Tatsächlich hat die zunehmende Nachfrage nach Fisch die Fischbestände ernsthaft beeinflusst. Während die Weltbevölkerung über die letzten 50 Jahre jährlich im Schnitt mit 1,6 Prozent gewachsen ist, ist der Konsum von Fisch mit 3 Prozent fast doppelt so stark gestiegen. Die Überfischung hat sich in den letzten 50 Jahren verdreifacht und liegt mittlerweile bei über 30 Prozent. Zählt man alle Fischbestände zusammen, die maximal befischt oder überfischt werden, so liegt der Anteil bei über 90 Prozent.

Technologischer Fortschritt in der Fischerei

Drei Faktoren haben den Fischbeständen besonders zugesetzt: Erstens der Anstieg der Weltbevölkerung und die damit verbundene höhere Nachfrage nach Fisch, zweitens die Zunahme an Fischfangflotten und drittens der technologische Fortschritt in der Fischerei. Die Weltbank schätzt, dass sich die Anstrengungen in der Fischerei seit 1970 vervierfacht haben. Heute gibt es über vier Millionen professionelle Fischereischiffe. Die mit Abstand grösste Fischfangflotte weisen die asiatischen Länder mit einem Anteil von zwei Drittel auf. Danach folgt Afrika mit einem Anteil von etwa einem Viertel. Zwar sind die riesigen Fischfangflotten in den letzten Jahren reduziert worden, der technologische Fortschritt beim Orten und Fangen der Fische hat diesen Effekt aber vermutlich wieder kompensiert.

Rational ist das nicht

Bei einer Vervierfachung des Aufwands könnte man meinen, dass auch die Ausbeute stark zugenommen hat. Tatsächlich hat sich die Ausbeute in den Ozeanen seit 1970 nur leicht und seit 1990 nicht mehr gesteigert. Für die Weltbank ist somit klar, dass wir uns nicht in einem ökonomischen Optimum befinden. Aus Sicht der Weltbank sind gar 90 Prozent der Fischbestände überfischt – und zwar von einem ökonomischen Standpunkt betrachtet: Würden sich die Fischbestände wieder regenerieren, könnten mit weniger Aufwand mehr Fische gefangen werden. Die Weltbank beziffert diesen wirtschaftlichen Verlust mit 83 Milliarden US-Dollar. Das ist sehr viel, wenn man bedenkt, dass der Wert der globalen Fischexporte sich auf 150 Milliarden US-Dollar beläuft.

Was hat das mit uns Menschen zu tun?

Nicht nur, dass wir im wahrsten Sinne des Wortes Milliarden versenken, wir schaden uns damit auch noch selbst – ökologisch und sozial. Etwa eine halbe Milliarde Menschen ist für ihren Lebensunterhalt direkt auf die biologische Vielfalt der Meere angewiesen. Das ist die soziale Komponente. Die ökologische Komponente ist komplexer: Indem es knapp die Hälfte des globalen Kohlendioxids aufnimmt, erzeugt Phytoplankton im Meer über die Hälfte des gesamten Sauerstoffs in unserer Atmosphäre. Jeden zweiten Atemzug verdanken wir also den Meeren. Wie viel Phytoplankton in den Meeren lebt, hängt von der Biodiversität des Meeres ab. Es spielt also keine Rolle, ob wir das Aussterben einer Meerestierart bedauern oder nicht. Das Fazit bleibt gleich: Die Gesundheit des Meeres ist für uns lebensnotwendig.

Wem gehört das Meer?

Der Verdacht liegt nahe, dass die Ausbeutung der Weltmeere damit zu tun hat, dass die Meere allen und niemandem gehören. Der erste Versuch, die Ozeane aufzuteilen, fand 1493 statt und genoss gar die höchstoffizielle Unterstützung des Papstes. Damals sollte der Atlantik zwischen den Kolonialmächten Spanien und Portugal aufgeteilt werden. Grossbritannien wusste dies zu verhindern. Danach galt lange der Grundsatz der Freiheit der Meere: Meeresressourcen gehörten der Person, die sich diese Ressourcen nimmt. Mit der United Nations Convention on the Law of the Sea (UNCLOS) wurden 1982 erfügungsrechte ausformuliert. Küstenstaaten haben dadurch exklusive Rechte in ihrer «Economic Exclusive Zone» (ausschliessliche Wirtschaftszone), die sich 200 Seemeilen von der Küste Richtung Meer erstreckt. Auf offener See hingegen gilt im Prinzip weiterhin der Grundsatz der Freiheit der Meere.

Falsch allozierte Subventionen

Um sicherzustellen, dass bei diesem globalen Wettkampf das eigene Land nicht zu kurz kommt, werden von staatlicher Stelle zumeist hohe Subventionen an den Fischereisektor gezahlt. Über 35 Milliarden US-Dollar alleine im Jahr 2018. Instinktiv würde man vermuten, dass diese Subventionen kleine Fischereibetriebe in den Entwicklungsländern unterstützen. Weit gefehlt! Etwa zwei Drittel der Subventionen floss in Programme, die Überkapazität und Überfischung zur Folge hatten. Nur ein kleiner Teil dieser Subventionen wird zum Erhalt und der Bewirtschaftung von Fischereiressourcen eingesetzt. Knapp ein Viertel aller Subventionen besteht gar in Treibstoffzuschüssen für die Fischereischiffe.

Erste Hoffnungszeichen von der internationalen Politik

Die Ausbeutung der Meere durch Fischfang ist nur eine Belastung von vielen für die Weltmeere. Die Verschmutzung, die Erwärmung und die Versauerung durch die Aufnahme von Kohlendioxid setzen dem Ökosystem der Ozeane ebenfalls stark zu. Seit 1970 haben sich die Ozeane ungemindert erwärmt und mehr als 90 Prozent der zusätzlichen Wärme im Klimasystem aufgenommen. Mittlerweile ist die Misere der Ozeane bei vielen Entscheidungsträgern seitens Politik und Wirtschaft angekommen.

In letzter Zeit sind zwei neue Abkommen erzielt worden: Im März dieses Jahres haben die Vereinten Nationen (UNO) einen Durchbruch erzielt und dem UNCLOS einen Zusatz zugefügt, der die Biodiversität auf hoher See schützen soll. Das Kernstück dieses Zusatzes besteht darin, dass 30 Prozent der hohen See zu Meeresschutzgebieten erklärt werden soll. Zudem hat die Welthandelsorganisation 2022 ein neues Abkommen zur Verhinderung schädlicher Subventionen in der Fischerei abgeschlossen. Zuletzt können auch wir als Konsumenten und Investoren bestimmen, wohin unser Geld fliesst. Schliesslich wollen wir weiterhin bei Meeresfieber an die innige Sehnsucht nach dem Meer denken und nicht an dessen desolaten Gesundheitszustand.