«Im Fussball wäre ich der Sportchef»

Der Chief Investment Officer (CIO) ist die oberste Instanz im Anlageprozess einer Bank. Wie bringt man viele Analysen zu einer «Hausmeinung» und einem Anlageentscheid zusammen und entwickelt eine kongruente Strategie? Christoph Schenk, CIO der Zürcher Kantonalbank, steht Red und Antwort.

Text: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) / Bilder: Christian Grund

«Man kann das mit dem Fussball vergleichen, der europäische CIO-Typus arbeitet wie der Trainer, der angelsächsische wie ein Sportchef», vergleicht Christoph Schenk die Arbeit als CIO mit dem Fussball.

Herr Schenk, Sie waren bereits als CIO bei der CS und UBS in ähnlicher Position tätig. Waren die Aufgaben vergleichbar?

Christoph Schenk: Grundsätzlich schon. Es gibt aber den europäisch geprägten CIO und den angelsächsischen CIO. Ersterer fällt den Anlageentscheid aufgrund von Annahmen wie: «Die Zinsen dürften fallen, wir setzen hier ein Übergewicht.» Letzterer legt den Schwerpunkt auf die Führung der Vermögens­verwaltungs­abteilung, er schaut, dass Prozesse und Performance stimmen, die Leute am richtigen Ort eingesetzt werden, fällt aber direkt keine Anlageentscheide. Ich bin in der CS grossgeworden und deshalb angelsächsisch geprägt. Man kann das mit dem Fussball vergleichen, der europäische CIO-Typus arbeitet wie der Trainer, der angelsächsische wie ein Sportchef.

Und was macht der Sportchef mit seiner ZKB-Mannschaft?

Grob gesagt, steuere ich den Ablauf: Wissensgenerierung, Interpretation, Anlageentscheid, dessen Umsetzung und Kommunikation. Wir haben einen Top-down-Approach, wir gehen über die Konjunktur auf die einzelnen Märkte, Branchen und Unternehmen. In der Folge geht es darum, das passende Instrument auszuwählen, entweder Aktien oder Anleihen.

Ihre Mitarbeiter, Ökonomen und Analysten werden nicht immer zum gleichen Schluss kommen. Haben Sie den Stichentscheid?

Ich kann alles übersteuern. Aber das wäre falsch – wie wenn ich als Sportchef aufs Spielfeld gehe und dem Trainer sage, wie er spielen lassen soll. Der Anlageentscheid kommt vom Chefstrategen. Wenn wir nicht zufrieden sind, analysieren wir auf dem Resultat und nicht auf dem Einzelfall. In über 99 Prozent der Fälle ist der Entscheid, den der Spezialist fällt, auch mein Entscheid. Wenn ich das nicht könnte, hätte ich die falschen Leute. Anlegen ist komplex und erfordert einen Teameinsatz.

Kommt der Analyst der Swatch betreut zu Ihnen und argumentiert, wieso man die Aktien kaufen sollte?

Nein, wir gehen nicht auf Stufe Einzeltitel. Ich entscheide nicht Nestlé oder Novartis. Wie erwähnt, verfolgen wir den Top-down-Ansatz, das ist eine Kaskade von Kompetenzdelegation. Wenn mich jemand fragt, was halten Sie von XY, kann ich nur sagen, da müssen Sie unseren Analysten fragen. Ich kann nicht alles und bis ins letzte Detail. Im Ausland suchen wir dafür die besten externen Experten.

Nutzen Sie nach dem Verschwinden der CS die sich öffnende Lücke im Research?

Wir waren schon bisher die einzige Schweizer Bank, die noch Primär-Research für Aktien und Obligationen macht. Das heisst, wir besuchen Unternehmen in der Schweiz und sprechen mit CEO sowie CFO und bilden uns so unsere Meinung. Viele Banken machen nur noch Sekundär-Research und lesen Berichte – beispielsweise unsere. Wir haben bereits eine breite Firmenabdeckung.

Dem Kleinanleger sagt man immer, dass er nicht zu aktiv sein soll, denn hin und her macht Taschen leer: Wie viele Anlageentscheide treffen Sie denn?

Das ist schwierig zu sagen, denn es gibt keine Norm. Im August beispielsweise gab es wenige Anlageentscheide. Wir haben Schweizer Aktien aufgebaut und europäische Aktien abgebaut. Bei den Anleihen haben wir nichts verändert, ausser mit Australien und dem Pfund etwas. Eigentlich wurde nur justiert, denn das Grundsatzszenario steht.

Und diese Entscheide haben dann Einfluss auf jedes Kundenmandat?

Ja, diese Anpassungen werden unmittelbar umgesetzt.

Wie viele Freiheiten hat der Kundenberater noch? Darf der noch sagen, ich finde diese Aktie attraktiv?

Im Vermögensverwaltungsmandat delegiert der Kunde 100 Prozent der Entscheide an die Bank. Der Kundenberater macht in diesem Fall vor allem Bedürfnisanalysen und Risikoprofil. Bei den Beratungsmandaten erhalten die Kunden von uns Empfehlungen, gemäss unserer Anlagestrategie. Sie können aber selbst entscheiden: «Das will ich, das will ich nicht.»

Wie viele Anlagestrategien macht die ZKB für die unterschiedlichen Risikoprofile?

Mittlerweile haben wir rund 2300 …

… wirklich, so viele, hat da noch jemand den Überblick?

Ja, wir, respektive der Computer. Wir haben rund 32 000 Vermögens­verwaltungs­mandate mit fünf Basisstrategien à drei Währungen. Aber dann sagt der Kunde: «Ich will viel weniger Dollar, aber mehr von dem und dem.» Bis 2025 wollen wir in allen Mandaten eine totale Individualisierung ermöglichen. Man muss Systeme und Prozesse aufbauen, die dem Kunden alle Freiheiten erlauben, uns aber den Überblick geben.

Link zum Interview (NZZ)

Wenn Sie den Überblick behalten wollen, müssen sie stets über die Märkte informiert sein. Wie viel Zeit wenden Sie dafür auf?

Dafür habe ich meinen Chefstrategen. Der ist der Trainer des Fussballteams, um auf den Vergleich zurückzukommen. Klar muss ich informiert sein, aber ich muss nicht die letzten Details wissen. Ich habe aber ein Szenario und gleiche dies mit den aktuellen Geschehnissen ab. Wenn es Widersprüche gibt, gehe ich zum Spezialisten und frage diesen, was das bedeutet.

Wie viele Stunden setzen Sie sich selbst pro Tag mit Finanzmedien wie Bloomberg, Financial Times oder der NZZ auseinander?

Ich würde diese Zeit auf 20 Prozent schätzen. Wenn ich am Morgen zur Arbeit fahre, höre ich Bloomberg-Radio. Wenn es Aussergewöhnliches gibt, gehe ich auch hier damit zum Spezialisten und informiere mich. Bei mir läuft im Büro nebenbei Bloomberg-TV. Zudem haben wir einen intensiven Austausch über die ganze Abteilung, jeder ist ständig auf dem Laufenden.

Gibt es auch Vorkehrungen, dass man bei aussergewöhnlichen Ereignissen nicht zu stark reagiert?

Das kann ich am besten mit dem Überfall von Russland auf die Ukraine illustrieren. Mit Kriegsausbruch waren alle schockiert. Dann kam die Frage auf, setzen wir die nötigen Massnahmen wirklich wie vorgesehen um? Wir haben uns auf «skip the noise, process over outcome» besonnen. Der Prozess ist definiert, es gibt keine Diskussionen. Um uns zu disziplinieren, haben wir diese Abläufe geschaffen – für die guten und die schlechten Phasen.

Am Finanzmarkt gibt es stets viele Nebengeräusche. Gibt es Faktoren oder Kennzahlen, die besondere Beachtung verdienen?

Für die Szenarien muss man sich einig sein, wie die Welt läuft und wie es weitergehen wird. So kann man Unwichtiges auch herausfiltern. Man merkt vielleicht nicht gleich zu Beginn, dass es Nebengeräusche sind. Die Inflation ist etwa ein nachlaufender Indikator. Das ist auch das Problem der Zentralbanken, die Daten getrieben sind. Darum sind Szenarien und die Diskussion darüber, ob sie sich ändern, so wichtig.

Haben Sie als oberster Anleger der ZKB auch ein Vorbild?

Cool finde ich Warren Buffett. Aber ich bin nicht einer, der Bücher über Starinvestoren liest. Mich überzeugt Buffett, weil er Cashflow über alles setzt und dafür das Geschäftsmodell genau analysiert. Darum ist er wie ich kein Fan von Gold.

Welche Durchschnittsrendite wollen Sie für Ihre Kunden erzielen?

Ich will einfach besser sein als die Konkurrenz. Auf längerfristige Sicht gibt es je Anlageklasse eine Risikoentschädigung – die aber nicht immer gleich ist. Sie setzt sich zusammen aus risikofreiem Zins und Risikozuschlag. Ein Aktienengagement sollte den risikofreien Zins plus 4 bis 5 Prozent einbringen. Wir sehen die Kundenbedürfnisse wie eine Autofahrt. Der Kunde sagt, er wolle von A nach B auf der Autobahn fahren – aber nie über 80 km/h. Dann fragen wir den Kunden, wie viel wir die 80 unter- und überschreiten dürfen, weil wir teilweise etwa in Kurven auch abbremsen müssen.

Ist es auch Ihr Antrieb, mehr Spargelder auf den Konten in Anlagegelder umzuwandeln?

Ja, ich bin überzeugt, dass man mit Anlegen besser fährt – und mit Aktien besser als mit Obligationen. Ich verstehe, dass viele Leute hart gearbeitet haben, um etwas auf die Seite zu legen. Und der Gedanke, das wieder zu verlieren, ist schmerzhaft. Langfristig ist Anlegen aber Sparen klar überlegen, und wer mehr als zehn oder fünfzehn Jahre sein Einkommen aufs Sparkonto legt, vergibt zukünftige Kaufkraft und Lebensstandard.

Aber bei Ihnen hat jedes Mandat auch einen Obligationenanteil?

Ja, das verlangt die Risikostreuung. Wir haben aber keine reinen Obligationenmandate. Wenn ein Kunde uns sagt, er wolle nur Obligationen, meint er, die Schwankung des Portfolios muss einer Obligationenschwankung entsprechen. Das kann man auch erreichen, indem man Aktien im Depot hat. Wenn ich unsere Zinsprognose für 2024 anschaue, ist es jedoch durchaus sinnvoll, jetzt auch Obligationen im Depot zu halten.

Obligationen waren zehn Jahre keine gute Anlage. Sehen Sie jetzt die Zeit für festverzinsliche Investments gekommen?

Bis der nächste Zinszyklus durch ist, also etwa vier bis fünf Jahre, sind Obligationen durchaus attraktiv.

Die Europäische Zentralbank und die US-Notenbank FED haben angedeutet, dass das Zinshoch nicht erreicht ist und es weitere Erhöhungen geben werde. Haben sich die Investoren zu früh darauf eingestellt, dass die Zinsen bald wieder kräftig sinken werden?

Wir betrachten vor allem die Kerninflation. Und wenn diese sinken soll, muss zuerst am Arbeitsmarkt etwas passieren. Es ist eine Illusion zu glauben, man könne die Inflation senken, ohne dass die Bedingungen am Arbeitsmarkt schlechter werden. Ausser sie können die Produktivität zum Explodieren bringen. Der Markt hat unterschätzt, wie viel Pandemie noch im Markt ist, also Überschussersparnisse und «labour horting» – die Unternehmen entlassen noch niemanden, weil sie noch in Erinnerung haben, wie schwierig Wiederanstellungen sind. Die Notenbanken haben keine Möglichkeiten mehr, unterstützend einzuspringen.

Gibt es diese Fehleinschätzung auch bei den Unternehmens­gewinnen?

Ja, es herrscht eine gewisse Sorglosigkeit, weil man sich an die vergangenen Jahre erinnert und denkt: Es ist auch damals gut – besser als erwartet – ausgegangen. Das war aber in Zeiten von sinkenden Zinsen. Und die Investoren wollen nicht wahrhaben, dass diese Zeit vorbei ist. Dieser Konjunkturzyklus muss durchlebt werden.