Realzins auf dem Vormarsch
Die Finanzmärkte reflektieren unter anderem die stärkere Straffung der Geldpolitik. Infolgedessen sind die Realzinsen angestiegen. Sobald die Inflationsraten abnehmen, wird dieser Druck nachlassen. Simon Lustenberger, Leiter Anlagestrategie bei der Zürcher Kantonalbank, erläutert die aktuelle Lage und ordnet die Geschehnisse ein.
Text: Simon Lustenberger / Bild: Andreas Guntli
Die Inflation hat sich als hartnäckig erwiesen. In Europa steigen die Konsumentenpreise als Konsequenz der teuren Energieversorgung weiterhin an, und in anderen Regionen verharren sie auf hohem Niveau.
Die Terminologie der «vorübergehenden Inflation» haben die Notenbanken längst über Bord geworfen. Die Währungshüter liessen in ihren jüngsten Aussagen keinen Zweifel daran, dass nun die Bekämpfung der Inflation die oberste Maxime darstellt, auch auf Kosten einer Wachstumsabschwächung. Dementsprechend haben die Notenbanken die Tonalität im September verschärft, und die Terminmärkte erwarten nun noch mehr Leitzinserhöhungen.
Mit der geldpolitischen Neubewertung sind die längerfristigen Kapitalmarktzinsen nochmals kräftig gestiegen, so auch am bedeutendsten und liquidesten US-Staatsanleihenmarkt. Die 10-jährige Treasury-Nominalrendite notiert mittlerweile nur noch knapp unter 4 Prozent.
Das Zinsgefüge wird durch zwei Komponenten bestimmt: die Summe von Inflationserwartungen und Realrenditen. Letztere sind erwartete Erträge, die ein Obligationeninvestor aus Zinszahlungen nach Abzug der Inflation erzielt.
Realzinsen stehen in Konkurrenz zu anderen Anlageklassen
In vielen Währungsräumen werden inflationsgeschützte Anleihen gehandelt, deren Verfallrendite eine direkte Indikation für die erwartete Realrendite liefert. Jüngst sind die inflationsbereinigten Renditen stark angestiegen und stehen damit in unmittelbarer Konkurrenz zu den Anlageklassen.
Der Inflationseffekt kann von den Anlageklassen noch eher kompensiert werden. Wenn beispielsweise die Konsumentenpreise gleich stark ansteigen wie die Produzentenpreise, bleiben die Gewinnmargen für Aktien stabil. Andererseits ist die Realrendite der Gradmesser für die Stärke der geldpolitischen Straffung. Sie erhöht die Finanzierungskosten für Unternehmen und setzt die Unternehmensbewertungen unter Druck, da der Abzinsungsfaktor für zukünftige Geldströme steigt.
Aus Investorensicht bestehen in der Form von höheren Realzinsen am Geld- und Anleihenmarkt plötzlich wieder Alternativen. Sie stehen in Konkurrenz zu denjenigen Anlageklassen, die jahrelang von der lockeren Geldpolitik profitiert haben.
Zinssensitive Anlageklassen leiden
Tiefe Leitzinsen und Liquiditätsinjektionen in Form von Wertpapierkäufen waren im letzten Jahrzehnt das Mittel, um die Inflation anzukurbeln.
Mit der Bilanzerweiterung der Notenbanken floss viel Liquidität an die Finanzmärkte, wovon die Kurse von Aktien und Obligationen gleichzeitig profitierten und was die Bewertungen erhöhte. Durch die geldpolitische Straffung wurden nun fast sämtliche Anlageklassen in Mitleidenschaft gezogen.
Dass die Währungshüter eine restriktivere Haltung einnehmen, äussert sich im steigenden Realzins. Je höher die Zinssensitivität der Anlageklasse, desto grösser war der Abgabedruck bei den Börsenwerten. Die US-Technologiebörse Nasdaq verläuft spiegelbildlich zu den US-Realrenditen. Sie stellen für Aktien mit hohen Unternehmensbewertungen Opportunitätskosten dar.
Bei einem Realrenditeanstieg kommt das hohe Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) der Technologiewerte speziell unter Druck. Auch die Edelmetalle, wie Gold, bewegen sich zumeist in die umgekehrte Richtung als die inflationsbereinigten Renditen.
Realzinspfad abhängig von Leitzinserwartungen
In den USA besteht die Chance, dass die Inflationsraten ab Herbst langsam zurückgehen. Für die global bedeutendste Notenbank, das US-Fed, dürfte dann der Leizinsanhebungszyklus Ende Jahr bei 4,5 Prozent zum Stillstand kommen.
Aus dieser Warte betrachtet, scheinen die US-Leitzinserwartungen an den Terminmärkten angemessen. Viele Zinsbefürchtungen scheinen daher in den Realzinsen reflektiert zu sein. Das Risiko bleibt eine hartnäckigere Inflation, die erneut zu einem Anstieg der Zinserwartungen führt.
Notenbankbilanzen beeinflussen Realzinspfad mit
Der zweite und langfristig entscheidende Faktor für die inflationsbereinigten Renditen ist die Bilanzreduktion der Notenbanken.
Am Beispiel der USA wird die Bilanz nur zögerlich reduziert. Von den auslaufenden Staatsanleihen (Treasuries) wird das US-Fed bis zu 60 Milliarden pro Monat nicht mehr reinvestieren. Erreicht die Treasury-Fälligkeit die monatliche Obergrenze nicht, füllen die ultrakurz laufenden Treasury-Bills die Lücke. In gewissen Monaten ist das Volumen der Fälligkeiten der Staatspapiere jedoch deutlich höher. Es wird im November bei 110 Milliarden liegen, sodass immer noch 50 Milliarden reinvestiert werden.
In den vergangenen Monaten hat sich gezeigt, dass das US-Fed vorwiegend in Staatsanleihen mit langen Laufzeiten investiert. Das sogenannte Quantitative Tightening (QT) bzw. die Reduktion der Bilanz findet somit nur in den kürzeren Laufzeitenbereichen statt, während im längeren Segment nach wie vor Zukäufe und eine Bilanzausweitung stattfinden.
Man kann daher immer noch von einem Quantitative Easing (QE) bei länger laufenden Treasuries sprechen. Das hält auch die Realrenditen in Schach.
Geldpolitische Sorgen beträchtlich
An den Finanzmärkten war der Realrenditeanstieg im September schmerzhaft. Die Finanzierungsbedingungen haben sich deutlich eingetrübt, was auf die gestiegenen geldpolitischen Sorgen zurückzuführen war. Die erneut restriktivere Rhetorik der Notenbanken reflektiert sich nun in höheren Leitzinserwartungen, wobei die Notenbankbilanzen nur zögerlich reduziert werden.
In Anbetracht der aktuell geplanten Bilanzreduktion der Notenbanken ist der Anstieg der Realzinsen bereits stattlich. Es gibt aus dieser Warte Anhaltspunkte, dass der Realrenditeanstieg zumindest in den USA gebremst wird.