Ukraine-Konflikt: Russland will sich Gehör verschaffen

Einschätzungen des CIO-Offices der Zürcher Kantonalbank zu den aktuellen Entwicklungen rund um die Ukraine und die Auswirkungen auf die Finanzmärkte.

Text: David Marmet

David Marmet, Chefökonom Schweiz bei der Zürcher Kantonalbank
David Marmet, Chefökonom Schweiz bei der Zürcher Kantonalbank (Bild: Zürcher Kantonalbank)

Im Ukraine-Konflikt dreht sich die Eskalationsspirale von Tag zu Tag schneller. Die Finanzmärkte sind verunsichert: Blufft Russland nur oder kommt es zur grossen Invasion?

Zurzeit stehen die Zeichen auf Konfrontation. Obwohl weiterverhandelt wird, reduzieren westliche Länder ihr Botschaftspersonal in Kiew. Derweil unterstellt die britische Regierung dem Kreml, in der Ukraine eine pro-russische Regierung einsetzen zu wollen. Und US-Präsident Joe Biden will offenbar Truppen nach Osteuropa verlegen, während Russland seinerseits weitere Truppenbestände nach Belarus und an die Grenze zur Ukraine beordert. Die Drohungen bleiben hüben wie drüben mehrdeutig.

Umfassende Forderungen Russlands

Wie konnte es soweit kommen? Russland hatte im vergangenen Dezember Bedingungen an die NATO gestellt, die im Westen umgehend abgelehnt wurden: Das Verteidigungsbündnis solle unter anderem seine Truppen auf die Position von 1997 zurückziehen, also auf den Zeitpunkt vor den Beginn der NATO-Osterweiterung. Die Länder Polen, Ungarn, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Slowakei, Albanien, Kroatien, Montenegro sowie Nordmazedonien sind in den Folgejahren NATO-Mitglieder geworden.

Zudem fordert Moskau, dass das westliche Militärbündnis die Ukraine und andere ehemalige Sowjetrepubliken nicht aufnehmen und seine Waffen aus der Region abziehen soll. Nach zähen Verhandlungen hat US-Aussenminister Anthony Blinken angekündigt, in den nächsten Tagen eine schriftliche Antwort der USA dazu abzugeben. Fest steht schon jetzt, dass diese Antwort Russland nicht zufriedenstellen wird.

Im Ernstfall zöge die EU wohl am gleichen Strick wie die USA

Zwar hat Russland mit seinen Forderungen eines seiner Ziele bereits erreicht: Die USA verhandelten in Genf direkt mit Russland – und dies über die Köpfe der Europäer hinweg. Welche weiteren Ziele mit dem Truppenaufmarsch angepeilt werden, wird indes selbst unter ausgewiesenen Experten äusserst kontrovers diskutiert. Einig sind sie sich dahinge-hend, dass eine umfassende Invasion, die weiter westlich als nach Donezk und Luhansk geht, für Russland einen enorm hohen wirtschaftlichen und militärischen Preis hätte.

So würde die EU, die sich bisher alles andere als geeint in der Ukraine-Frage gezeigt hat, im Falle eines russischen Einmarsches wohl einheitlicher auftreten und dezidiert mit den USA am gleichen Strang ziehen. Durch die bereits fertiggestellte Ostsee-Pipeline «Nord Stream 2» dürfte dann kaum je russisches Gas nach Deutschland fliessen. Ein NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands wäre dann zudem wohl nur noch eine Frage der Zeit. Ein Szenario, das nicht im Interesse Russlands sein kann.

Politik der Nadelstiche sorgt für Volatilität

Geopolitische Ereignisse wie jüngst die Flüchtlingskrise in Belarus oder die Unruhen in Kasachstan werden von den Finanzmärkten unter dem Motto «politische Börsen haben kurze Beine» erfahrungsgemäss rasch abgehakt. Im Ukraine-Konflikt sieht es anders aus. Um weiterhin mit der Hegemonialmacht USA auf Augenhöhe verhandeln zu können, scheint für Russland die gewählte Politik der Nadelstiche ein geeignetes Instrument zu sein.

Allerdings ist sich der Kreml bewusst, dass der Bogen nicht überspannt werden darf. So stammen knapp 40% des importierten Erdgases in die EU aus Russland. Durch Russland provozierte Lieferengpässe würden die Bestrebungen zur Energiediversifikation in den europäischen Ländern beschleunigen. Anhaltend hohe Energiepreise werden zudem auch in Russland zu höheren Inflationsraten führen. Erfahrungsgemäss entzieht die eigene Bevölkerung in solchen Fällen der politischen Klasse ihre Zustimmung.

Es ist also naheliegend, dass in den nächsten Monaten immer wieder Meldungen über Cyberattacken, Sabotageversuche oder staatliche Stimmungsmache in sozialen Medien die Runde machen. Das Hin und Her zwischen Eskalations- und Deeskalationsphasen wird die Volatilität an den Finanzmärkten vorerst hochhalten. Dennoch soll an dieser Stelle die berechtigte Hoffnung nicht kleingeredet werden, dass der Konflikt in den nächsten Wochen an Brisanz einbüssen wird. Wir verfolgen die weitere Entwicklung in der Ukraine-Krise sehr genau und werden bei Bedarf wieder informieren.