Zwischen Demokratie und Autokratie
Einige Stimmen behaupten, dass der Ukraine-Krieg und die aktuelle Taiwankrise die erneute Zweiteilung der Welt in einen demokratischen und in einen autokratischen Block beschleunigen. David Marmet, Chefökonom Schweiz, erläutert, weshalb die konsequente Interessenspolitik der einzelnen Regierungen das verhindert und was die neutrale Schweiz dabei für eine Rolle spielt.
Text: David Marmet
Am 2. August 2022 besuchte Nancy Pelosi, Vorsitzende des US-amerikanischen Repräsentantenhauses, Taiwan. Nur wenige Minuten danach setzte sie eine Meldung via Twitter ab: «Amerikas Solidarität mit den 23 Millionen Einwohnern Taiwans ist heute wichtiger denn je, da die Welt vor der Wahl zwischen Autokratie und Demokratie steht.»
Auf den ersten Blick beschleunigen der Ukraine-Krieg sowie die Taiwankrise eine erneute Zweiteilung der Welt. Dies, nachdem diese Zeiten mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor mehr als 30 Jahren längst als überwunden gegolten hatten.
Keine eindeutige Zweiteilung im Kalten Krieg
Die Spaltung der Welt ist nicht unausweichlich, das lehrt uns die Vergangenheit. Denn selbst während des Kalten Krieges war die Welt nicht eindeutig zweigeteilt. Zwar standen sich nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1989 mit dem Warschauer Pakt und der NATO zwei mächtige Blöcke gegenüber, die auf Stabilität abzielten, zweifelsohne aber eine Bedrohung für die jeweilige Gegenseite darstellten. Es waren jedoch bei Weitem nicht alle Staaten dazu bereit, sich klar auf die eine oder andere Seite zu schlagen. So war unser Land bekanntlich auch während des Kalten Krieges neutral – wobei neutral nicht mit wertfrei gleichzusetzen ist. Die Schweiz interpretierte ihre Neutralität in der Zeit des Kalten Krieges sogar deutlich enger als andere damals ebenfalls neutrale europäische Staaten wie Österreich, Schweden, Finnland oder Irland. Zudem droht oft in Vergessenheit zu geraten, dass sich im Laufe des Kalten Krieges die Bewegung der blockfreien Staaten konstituierte, welche aktuell mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung und nahezu zwei Drittel der Sitze in der UN-Generalversammlung auf sich vereint.
Die Spaltung der Welt ist nicht unausweichlich, das lehrt uns die Vergangenheit.
David Marmet, Chefökonom Schweiz
Integrale oder kooperative Schweizer Neutralität
Die bewaffnete Neutralität der Schweiz geht auf den Wiener Kongress von 1815 zurück. Da verschiedene europäische Grossmächte die Schweiz damals gerne kontrolliert hätten, wurde ihr als Kompromisslösung die dauernde Neutralität auferlegt, deren Auslegung über die Zeit aber den jeweiligen sicherheitspolitischen Realitäten angepasst wurde. Rechtlich gesehen bedeutet die Schweizer Neutralität die Nichtteilnahme an bewaffneten internationalen Konflikten und den Verzicht auf eine militärische Begünstigung von Kriegsparteien, auch wenn diese Prinzipien während des Zweiten Weltkrieges nicht immer eingehalten wurden.
Heute wird die Ausgestaltung der Schweizer Neutralität erneut hitzig diskutiert. Bekanntlich schloss sich im Ukraine-Krieg der Schweizer Bundesrat nach anfänglichem Zögern den EU-Sanktionen gegen Moskau an. Für die einen ist die Schweiz damit zur Kriegspartei geworden. Bundesrat Cassis sieht die Schweiz hingegen in einer kooperativen Neutralität. Die Schweiz sei ein neutrales Land, das sich für eine regelbasierte und stabile Sicherheitsarchitektur einsetze, die nur multilateral entstehen könne, so Cassis.
Die Bewegung der «Blockfreien Staaten»
1961 konstituierte sich auf Initiative der Staatsoberhäupter aus dem damaligen Jugoslawien, Ägypten, Indien und Indonesien die Bewegung der «Blockfreien Staaten» (englisch «Non-Aligned Movement»). Autokraten und Demokraten aus 25 Nationen sassen gemeinsam an einem Tisch. Diese Heterogenität ist mit ein Grund dafür, dass keine bürokratische Organisation ins Leben gerufen wurde, sondern eine Bewegung ohne starre Regeln. In ihren grundlegenden Zielen allerdings waren sie sich einig. Sie wollten sich für die weltweite Abrüstung einsetzen und befürworteten die friedliche Koexistenz von Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen. Heute hat die Bewegung 120 Mitglieder und vertritt damit 55 Prozent der Weltbevölkerung. Mit dem Ende des Kalten Krieges hat sie allerdings stark an Bedeutung eingebüsst. Dennoch: Indien, das grösste und wichtigste Mitgliedsland dieser Bewegung, hat das Mantra der Blockfreiheit bis heute immer wieder ins Zentrum gerückt.
Indiens strategische Autonomie
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine kam es im März 2022 zur Abstimmung über die Resolution, die den russichen Einmarsch verurteilen sollte. Die Enthaltung Indiens rief dabei in der westlichen Welt Stirnrunzeln hervor, wurde doch in Europa und den USA immer stärker das Narrativ der Wertepartnerschaft mit Indien betont. So ist Indien beispielsweise zusammen mit Japan, Australien und den USA Mitglied des losen Staatenbundes Quad (englisch «The Quadrilateral Security Dialogue»). Dieser sicherheits- und militärpolitisch ausgerichtete Zusammenschluss hat sich einen freien Indo-Pazifik zum Ziel gesetzt. China bezeichnete Quad bereits als asiatische Nato.
Indien ist der grösste Rüstungsimporteur der Welt, wobei etwa 70 Prozent des derzeitigen Rüstungsinventars aus sowjetischen oder russischen Beständen stammen. Aus historischer Warte sind die Verflechtungen zwischen Indien und Russland eng. Allerdings war Russland in den vergangenen Jahren kein allzu verlässlicher Partner mehr für Indien. So hat der Kreml seine militärische Zusammenarbeit mit Pakistan verstärkt.
Hinzu kommt, dass sich China und Russland besser zu verstehen scheinen, als das Indien lieb ist. Zum einen gibt es die Grenzstreitigkeiten mit China im Himalaya, zum anderen das Wettrennen um die Vormachtstellung im Indo-Pazifik. So hat Indien als Reaktion auf das forsche Vorgehen Chinas in Südasien und im Indischen Ozean seine Aussenpolitik angepasst. Neben dem Quad-Zusammenschluss fokussiert es sich auch auf Süd-Süd-Kooperationen, geht also Partnerschaften mit dem globalen Süden ein. Dabei könnte Indien aufgrund seiner schieren Grösse die Rolle des «Swing State» bei der Blockbildung zufallen. Das heisst, falls sich Indien auf die Seite des von Nancy Pelosi bezeichneten Demokratieblocks schlägt, würde dies das Kräftegleichgewicht entscheidend auf diese Seite verschieben – und vice versa. Nur: Indien wird sehr wahrscheinlich an seiner strategischen Autonomie festhalten. Das Land strebt weder mit den USA noch mit Russland, geschweige denn mit China, ein enges Bündnis an.
Auch in Zukunft keine zweigeteilte Welt
Das Beispiel Indien zeigt, dass bei vielen Staatsoberhäuptern nicht so sehr die oft zitierte Wertegemeinschaft im Zentrum steht, sondern vielmehr der Machterhalt oder gar Machtausbau. Bei einer beständigen Unsicherheit über die Absichten der Nachbarländer sind die Staaten bestrebt, ihre Macht auszudehnen, um so die eigenen Sicherheitsinteressen zu gewährleisten.
In diesen Tagen ist wieder viel von der Wertegemeinschaft die Rede. Die Europäische Union hat dies gar im Vertrag über die Europäische Union (EUV, Artikel 2) festgehalten: «Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschliesslich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören». An den Schalthebeln der Macht wird indes eine andere Sprache gesprochen: diejenige der reinen Interessenspolitik. Diese Interessenspolitik hat in der Vergangenheit eine Zweiteilung der Welt verhindert. Und sie wird das auch in Zukunft tun. Zwar sind die Anzeichen der Blockbildung nicht zu leugnen. Die Fronten zwischen demokratischen Staaten und autokratischen Staaten verhärten sich zusehends. Dennoch wird die Staatenwelt auch in Zukunft heterogen und durchmischt bleiben. Dabei ist das von den Blockfreien Staaten in den 1950er-Jahren formulierte Ziel heute aktueller denn je: die friedliche Koexistenz von Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen.