Die Aussicht macht den Unterschied
Hochhauswohnen ist in den letzten Jahren zum Trend geworden. Oft werben Promotoren und Vermieter mit einer exzellenten Aussicht und verlangen einen Aufpreis in den höheren Etagen. Dass die Aussicht in den oberen Etagen nicht immer besser ist, zeigt unsere Analyse.
Text: Isabella Kübler und Emanuel Roos, Analytics Immobilien
Die Zürcher Skyline wächst. Immer höher und grösser ragen die Häuser in der Limmatstadt in den Himmel. Längst handelt es sich dabei nicht mehr nur um reine Bürotürme oder Hotels. Immer öfter werden auch Hochhäuser mit reiner oder vorwiegender Wohnnutzung geplant und hochgezogen. Mit dem Jabee Tower in Dübendorf hat die Region Zürich letztes Jahr gar das höchste Wohnhochhaus der Schweiz erhalten. Die Nachfrage nach exklusiven Wohnungen in luftiger Höhe scheint trotz der Corona-Krise vorerst ungebrochen.
Einzigartige Kombination von Aussicht und Zentralität
Hochhauswohnen findet immer mehr Anklang, auch bei der breiten Masse. Angesichts des knappen Wohnraums in den urbanen Zentren erstaunt dies kaum. Hochhäuser verfügen über das einzigartige Potenzial, zwei sonst nur schwer kombinierbare, jedoch sehr entscheidende Immobilieneigenschaften zu vereinen: Zentralität und Aussicht. Es dürfte just dieses Paket sein, das viele Käufer anspricht und die starke Nachfrage im Raum Zürich beflügelt. Selbst vor den im Vergleich zu konventionellen Bauten eher höheren Preisen schreckt kaum jemand zurück. Die mit einem Hochhausbau einhergehenden Zusatzkosten führen zu höheren Preisen beziehungsweise teureren Mieten. Dies erfolgt typischerweise über eine sogenannte Stockwerkprämie – je höher die Etage, desto teurer die Wohnung. Auf den ersten Blick scheint diese Preisgestaltung nachvollziehbar, kann doch davon ausgegangen werden, dass mit zunehmender Höhe eine schönere Aussicht einhergeht. Doch wie so oft steckt auch hier der berühmte Teufel im Detail. Was bedeutet es eigentlich, eine «schöne» Aussicht zu haben? Und stimmt es wirklich, dass die Aussicht mit grösserer Höhe immer «besser» wird? Diesen Fragen sind wir nachgegangen.
Werde ich in meiner Wohnung Seesicht haben?
Stellen Sie sich ein Hochhaus mitten in der Stadt Zürich vor. Ist das Quartier sehr dicht gebaut, profitieren Sie erst ab der achten oder neunten Etage von der schönen Aussicht. Dann nämlich sind Sie über den Dächern der Nachbargebäude. Das Panorama ist nicht mehr durch die angrenzenden Häuser eingeschränkt. Ihr Blick kann in die Ferne schweifen. Je nach Lage sehen Sie vielleicht bis zu den Alpen oder gar auf den Zürichsee. Unterhalb dieser Hochhausgrenze dürfte die Aussicht hingegen gerade mal ins Wohnzimmer des Nachbarn reichen. Vom schönen Hochhaus-Feeling wird da nicht viel zu spüren sein.
Dieses kurze Gedankenexperiment zeigt, dass die Qualität der Aussicht je nach Etage und Hochhaus sehr unterschiedlich sein kann. Mitunter sind gar von Etage zu Etage grosse Schwankungen möglich. Werden Wohnungen ab Plan im Voraus reserviert oder gekauft, wie dies oft bei Neubauprojekten der Fall ist, löst das viele Fragen beim potenziellen Käufer aus. Werde ich in meiner Wohnung den See schon sehen? Wenn ja, wie viel davon? Lohnt sich der Aufpreis für die zwanzigste Etage, oder reicht auch die sechzehnte? Ohne eine Besichtigung der Wohnung lassen sich solche Fragen kaum beantworten. Drohnenflüge können zwar einen ersten Eindruck verschaffen, für einen direkten objektiven Vergleich verschiedener Etagen oder Hochhäuser ist diese Technologie jedoch ungeeignet.
Etagengenaue Sichtbewertung
Dank neuer Datengrundlagen und Berechnungsmethoden können wir die Aussicht erstmals etagengenau für die ganze Schweiz quantifizieren und bewerten. Damit lässt sich die Aussicht zwischen Etagen innerhalb eines Gebäudes und gebäudeübergreifend direkt miteinander vergleichen. Für unsere Berechnungen berücksichtigen wir typische für die Aussicht relevante Aspekte wie See-, Fluss- und Bergsicht sowie die Sicht auf andere Gebäude. In einem zweiten Schritt messen wir, wie stark der Immobilienmarkt diese einzelnen Sichtattribute honoriert. See- oder Bergsicht geht – wenig überraschend – mit einem höheren Immobilienpreis einher. Ein hoher Anteil an überbautem Terrain im Sichtfeld wird andererseits abgestraft (weitere Informationen zur Methode finden Sie am Schluss des Artikels). Indem wir gewissermassen den Computer aus dem Fenster schauen lassen und daraus ein Sichtmass ableiten, können wir für jede beliebige Adresse und Etage in der Schweiz den Marktpreis für die Aussicht berechnen. Eine illustrative Aufbereitung dieses Sichtmasses für die bekanntesten Hochhäuser und Hochhausprojekte der Stadt Zürich finden Sie nachfolgend. Je dunkler eine Etage eingefärbt ist, desto höher ist das Sichtmass und desto «besser» ist die Sicht.
Höher ist nicht immer besser
Erwartungsgemäss steigt das berechnete Sichtmass tendenziell mit zunehmender Höhe. Wie die einzelnen Beispiele jedoch deutlich zeigen, gibt es von Hochhaus zu Hochhaus beträchtliche Unterschiede.
Äusserst spannend erscheint das sich erst in der Planung befindende Hochhaus Depot Hard, das auf dem Areal des alten Tramdepots gleich neben der Limmat entstehen soll. Gemäss unseren Berechnungen werden Bewohner in diesem Hochhaus eine besonders gute Aussicht geniessen können. Die beste Aussicht wird es voraussichtlich aber nicht zuoberst geben, sondern in den mittleren Geschossen. Das hängt damit zusammen, dass die Sicht auf die Limmat in dieser Höhe ideal ist und mit zunehmender Höhe wieder abnimmt. Aufgrund der unmittelbaren Nähe zur Limmat ist der Sichtwinkel in den obersten Stockwerken zu spitz; nur noch ein kleiner Teil der Limmat befindet sich im natürlichen Sichtfeld. Kommt hinzu, dass die obersten Etagen voraussichtlich kaum mit einer Seesicht punkten werden, da diese durch die Skyline der Stadt sowie durch das Bürohochhaus auf der anderen Strassenseite versperrt wird.
Höher ist somit nicht immer besser. Das gilt nicht nur innerhalb eines Hochhauses, sondern auch hochhausübergreifend. Mit unserem Sichtmass lassen sich Vergleiche zwischen den einzelnen Hochhäusern ziehen. Einmal fertiggestellt, ist das umstrittene Hochhausprojekt Ensemble beim Hardturmstadion mit 137 Metern und rund 44 Etagen das höchste Gebäude der Stadt Zürich. Die Aussicht in den obersten Etagen wird hingegen kaum besser sein als im viel kleineren Hochhaus Depot Hard. Das Projekt Ensemble wird zwar mit einer spektakulären Weitsicht punkten können, hingegen werden die meisten Etagen nur eine begrenzte Sicht auf die Limmat haben. Seesicht wird es voraussichtlich erst in den obersten zehn bis fünfzehn Etagen geben.
Ein schönes Beispiel für einen sprunghaften Sichtanstieg bietet der Mobimo Tower. Bis zur siebten Etage ist die Aussicht nicht besonders spektakulär. Ab dem achten bzw. neunten Stockwerk gibt es dann eine deutliche Verbesserung der Aussicht. Das hängt vor allem mit den Berggipfeln zusammen, die ab dieser Höhe sichtbar werden. Ab der achtzehnten Etage kommt noch eine annehmliche Seesicht hinzu, die sich ebenfalls positiv auf die Güte der wahrgenommenen Aussicht auswirkt.
Vorsicht vor der Katze im Sack
Für den potenziellen Käufer oder Mieter einer neuen Hochhauswohnung lohnt es sich also, genau hinzuschauen bzw. hinauszuschauen. Insbesondere zwischen dem siebten und zehnten Stockwerk kann es je nach Lage des Hochhauses erhebliche Schwankungen bei der Aussichtsqualität geben. In diesen Höhenlagen ist das Risiko somit am grössten, dass man die erhoffte schöne Aussicht knapp verpasst, weil man die Katze im Sack kauft. Erst durch die Quantifizierung und Bewertung der Aussicht lässt sich die notwendige Transparenz schaffen, um dieses Risiko besser einzuschätzen.
Mischnutzung als mögliche Strategie
Von dieser Transparenz könnten auch Entwickler von Hochhäusern profitieren. Für eine erfolgreiche Vermarktung ist es entscheidend, die Qualität und Vorzüge seines Produkts zu kennen. Der Aussicht als wohl wichtigstem Qualitätsmerkmal sollte bei Hochhauswohnungen demnach eine besondere Bedeutung zukommen. Allerdings scheinen Profis diesem Aspekt bislang noch zu wenig Beachtung zu schenken. Sie vergeben sich dadurch wertvolles Potenzial. Oft ist zu beobachten, dass bei der Preissetzung einfache Heuristiken wie beispielsweise «3 Prozent pro Etage» Anwendung finden. Damit besteht das Risiko, dass einzelne Wohnungen zu teuer oder nur sehr langsam, andere Wohnungen zu günstig verkauft oder vermietet werden. Ein adäquateres Pricing, das die Qualität der Sicht miteinbezieht, könnte diesem Risiko entgegenwirken. Insbesondere in sehr dicht besiedelten Gebieten dürfte es schwierig werden, die unteren Etagen zu vermarkten – denn ohne entsprechende Aussicht verliert das Hochhauswohnen an Reiz. Eine mögliche Strategie, diesem Problem zu begegnen, ist ein geschickter Nutzungsmix. So bietet der Mobimo Tower beispielsweise Wohnungen erst ab der fünfzehnten Etage an. Die unteren Etagen werden als Hotel genutzt. Durch solch eine alternative Nutzung steigen zwar die Anforderungen an die Haustechnik und die Sicherheit, was sich direkt in den Baukosten niederschlägt. Dafür lässt sich damit das Problem der mangelnden Aussicht in den unteren Etagen deutlich entschärfen.
Wie man die Aussicht bewertet, ohne aus dem Fenster zu schauen
Die Aussichtsbewertung erfolgt in zwei Schritten. In einem ersten Schritt wird die Aussicht analysiert und quantifiziert, bevor das Resultat mithilfe statistischer Modelle bewertet wird.
Für die Quantifizierung der Aussicht stehen zwei Fragestellungen im Vordergrund: Was sehe ich, und wie weit sehe ich? Anhand dieser Faktoren ist es möglich, die Aussicht qualitativ messbar zu machen. Dank besserer Rechenleistung und der Integration neuer Daten im 3D-Format haben wir das bestehende Modell der Zürcher Kantonalbank zur Aussichtsberechnung substanziell weiterentwickelt. Dabei sind wir wie folgt vorgegangen: Zu Beginn haben wir einen Aussichtspunkt pro Stockwerk für jedes Gebäude im 3D-Datensatz definiert. Als Nächstes haben wir von diesem Punkt aus tausende von sogenannten Sichtstrahlen modelliert, die in alle Himmelsrichtungen zeigen. Schliesslich wird analysiert, auf welches erste Hindernis jeder dieser Sichtstrahlen trifft.
Dabei berücksichtigen wir nicht nur das Gelände wie Berge, Seen, Wald und Wiesen, sondern auch sämtliche Gebäude. Das erste Hindernis, das den Sichtstrahl blockiert, bestimmt, was man sieht. Die Länge des Sichtstrahls bis zum Hindernis bestimmt, wie weit man sieht.
Die Messung der Aussicht ist Grundlage für den zweiten Teil der Aussichtsbewertung. Dabei haben wir die quantifizierte Sicht in das hedonische Bewertungsmodell der Zürcher Kantonalbank integriert. Dadurch lässt sich eruieren, wie stark der Immobilien-markt die einzelnen Sichtaspekte honoriert. So wissen wir beispielsweise, dass See- und Bergsicht deutlich gewichtiger für den Wert einer Liegenschaft ist als die Sicht auf Wald oder Wiesen. Daraus lässt sich schliesslich der Marktwert bzw. ein daraus abgeleitetes Sichtmass für jede beliebige Etage in der Schweiz berechnen.