Die Sonnen- und Schattenseiten der Schweiz
Die letzten Sonnenstrahlen des Tages geniessen zu können, ist ein besonderes Privileg. Wir zeigen Ihnen die «Goldhügel» der Schweiz mit traumhafter Besonnung.
Text: Jörn Schellenberg, Analytics Immobilien
Kennen Sie «Die Kinderbrücke»? Das Bilderbuch erzählt von zwei Bauern, die an einem Fluss leben. Der eine auf der linken, der andere auf der rechten Seite. Ersterer geniesst morgens beim Pflügen die Sonne, während das Haus des anderen noch im Schatten liegt. Abends ist es umgekehrt. Der Bauer im Schatten schaut jeweils neidisch auf den in der Sonne.
Spätestens in der Primarschule lernt heute jedes Kind: Im Osten geht die Sonne auf, im Süden ist ihr Mittagslauf, im Westen wird sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen.
Dieser Merkspruch kommt sicher den meisten bei der Wohnungssuche in den Sinn. Da jedoch kaum noch jemand mit dem Pflug ums Haus unterwegs ist, kommt es beim Eigenheimkauf eher auf die Abendsonne an. Wer möchte nicht seinen Nachmittagskaffee in der Sonne geniessen und das goldene Abendlicht von der eigenen Terrasse aus schwinden sehen? Gerade die Südwest-Hanglagen versprechen einen späten Sonnenuntergang mit fantastischer Abendsonne. Ist diese auch noch gepaart mit einer grossartigen Aussicht – spiegelt sich die untergehende Sonne gar in einem See –, haben wir es mit besonders exklusiven Wohnlagen zu tun. Sie ziehen ein wohlhabendes Publikum an. Entsprechend gehoben wird an solchen Lagen gebaut. Viele Gemeinden haben ihren gerühmten Sonnenhügel. In der Schweizer Sonnenstube, dem Tessin, heisst eine Gemeinde sogar ganz offiziell Collina d’Oro (Goldhügel). Dies nicht zu Unrecht, denn sie liegt am Sonnenhang über Lugano mit wunderschönem Blick auf den Luganersee. Hier liess sich einst der Schriftsteller und Nobelpreisträger Hermann Hesse nieder. Und auch heute beherbergt der Goldhügel noch zahlreiche Persönlichkeiten. In Zürich ist es die begehrte «Goldküste», an der die gefragten Wohnlagen im warmen Abendlicht in einem fabelhaften Glanz erscheinen.
Um diese besonderen Wohnlagen aufzuspüren, haben wir erstmals für die gesamte Schweiz berechnet, wann die Sonne untergeht. Dabei haben wir explizit auch das Gelände berücksichtigt, das gerade in der Gebirgslandschaft der Schweiz einegrosse Bedeutung hat. Die Sonne geht in diesem Sinne bereits unter, wenn sie hinter einem Berg oder auch nur einem Hügel verschwindet. Sobald sie nicht mehr direkt zu sehen ist, liegt der betreffende Geländepunkt im Schatten. Ein Hochleistungsrechner hat die Simulation für 100 Millionen Punkte in Bezug auf den längsten und den kürzesten Tag des Jahres durchgeführt.
In den Sommermonaten scheint die Sonne in weiten Teilen des Landes noch relativ lang. 84 Prozent der Wohnungen haben am 21. Juni selbst um 20 Uhr noch Sonne. Im Winter hingegen, wenn die Sehnsucht nach Licht, Glanz und Wärme am grössten ist, ist es ein grosses Privileg, den fernen Feuerball am späten Nachmittag noch sehen zu können. Werfen wir daher einen Blick auf den Sonnenuntergang am kürzesten Tag des Jahres, dem 21. Dezember.
Gebirgsschatten
Auffällig blau erscheinen in der Karte die Schweizer Alpen. In den Bergen gibt es im Winter oftmals schon vor 14 Uhr keine direkte Sonneneinstrahlung mehr. Von einem auf den anderen Moment verschwindet die sich ab dem Mittag senkende Sonne hinter den imposanten Gipfeln, und es wird düster und kühl. Gerade in engen Bergtälern verzichtet man häufig auf grosszügige Loungemöbel, da es draussen schnell ungemütlich wird. In diesen Gefilden sind Wintergärten und verglaste Balkone gefragt. Aber selbstverständlich gibt es sie auch in den Bergen, die ideal besonnten Wohnlagen: An den Südwesthängen weiter Täler, insbesondere in höheren Lagen, lässt sich die Sonne selbst in der Bergkulisse lange an der frischen Luft geniessen. Man sieht dies zum Beispiel auf der Nordseite des Rhonetals, wo sich die Hänge in Richtung Sonne neigen. Nicht ohne Grund wird in der Region um Siders seit Jahrhunderten erfolgreich Wein angebaut, der in der trockenen Gegend ausgeklügelt bewässert werden muss.
Sonniges Mittelland
Im Kontrast zu den Bergregionen steht das dicht besiedelte Mittelland, wo zwei Drittel der Bevölkerung leben. Vom Genferseebogen im Westen bis nach St. Gallen im Osten zieht sich ein breites orangerotes Band, das aufzeigt, dass die Sonne hier am Winterabend besonders lang scheint. Aber selbst im flachwelligen Mittelland gibt es aufgrund der vielen Hügel und Bergzüge kleinräumig grosse Unterschiede. Dies zeigen exemplarisch die Grossstädte der Schweiz, die sich überwiegend quer durch das Mittelland ziehen und zumeist an Seen und weiten Flusstälern liegen.
Am Genfersee, dem grössten See der Schweiz, scheint die Sonne besonders lang. In Genf und Lausanne lohnt sich das Tragen einer Sonnenbrille selbst am kürzesten Tag des Jahres bis kurz nach halb fünf. Auch in der Uhrenmetropole Biel scheint die Sonne entlang des Jurasüdfusses im Winter noch lange ungehindert über den gesamten Bielersee in die Stadtebene hinein. Wer die Sonne hier nicht mehr sieht, kann seine Uhr getrost auf halb fünf stellen, falls diese doch mal stehenbleiben sollte. Nördlich des Juras erwärmt die Sonne ähnlich ausdauernd das Gemüt der Basler. Auch die Berner, St. Galler, Winterthurer und Luganesen geniessen im Durchschnitt etwas länger Sonne als die Bewohner der grössten Stadt der Schweiz, wo sich die Sonne am kürzesten Tag im Durchschnitt schon kurz vor vier hinter den Ausläufern des Uetlibergs versteckt. Das ist immerhin noch eine gute halbe Stunde länger als in Luzern, das mit dem Pilatus in Richtung des Sonnenunterganges einen stolzen Bergriesen vor der Brust hat, der alles in den Schatten stellt.
Die Sonne scheint auch für Zürich
Die Stadt Zürich kann sich zwar in verschiedenen Studien mit der höchsten Lebensqualität rühmen, im Vergleich mit den anderen Grossstädten schneidet sie aber zumindest in den Wintermonaten bezüglich Sonnenlicht relativ schlecht ab. Den sonnigen Quartieren am Zürichberg stehen auf der anderen Seite die Bereiche am Fusse des Uetlibergs gegenüber, die bereits relativ früh im Schatten des Hausberges stehen. Wem Sonnenhänge und Stadtnähe wichtig sind, der kommt im Kanton Zürich in Uitikon auf seine Kosten, wo man zudem noch von besonders günstigen Steuern profitiert. Hier scheint die Sonne nahezu im gesamten Ort so lange wie am Genfersee. Ähnlich verhält es sich in den Gemeinden Brütten, auf «höchster Ebene» des Bezirks Winterthur, und Winkel, deren Entwicklung stark mit der des Flughafens verbunden ist. Zumikon, Zollikon und Küsnacht an der Zürcher Goldküste werden bis gegen 16:20 Uhr von der Sonne verwöhnt. Den kantonsweit spätesten Sonnenuntergang hat man aber im Zürcher Weinland. Vor allem Benken, Truttikon und Rafz glänzen bis gegen 16:40 Uhr im Sonnenschein. Sie bieten allerdings zusammen nur 2700 Wohnungen, wobei 70 Prozent der Wohngebäude Einfamilienhäuser sind. Wem das nicht reicht, der findet jenseits der Kantonsgrenze weitere «Goldhügel». So wird beispielsweise das Dorf Lieli in der Gemeinde mit dem zweitgünstigsten Aargauer Steuerfuss im Volksmund genannt. Daran schliesst sich mit dem Mutschellen direkt eine Sonnenterrasse hoch über dem Reusstal an, die an guten Tagen einen spektakulären Blick auf die Alpen bietet.
Wer genau hinsieht, findet in der Karte sicher seinen eigenen bevorzugten Platz an der Abendsonne. Nutzen Sie dazu auch unsere neue interaktive Kartenapplikation, die Ihnen die traumhaften Sonnenhänge der Schweiz in allen Details im Winter wie im Sommer illustriert. Erfahren Sie mit einem Klick in die Karte, wann bei Ihnen die Sonne untergeht. Im Sommer ist der Bogen der Sonne am Himmel höher und länger als im Winter. Sie verschwindet im Sommer nicht schon im Südwesten, sondern erst im Nordwesten hinter dem Horizont. Das Gelände wirkt sich daher je nach Jahrereszeit leicht unterschiedlich aus. Wer zu keiner Jahreszeit die letzten Sonnenstrahlen des Tages geniessen kann, mag sich vielleicht über die sanfte Morgensonne freuen.
Wissen Sie übrigens, wie die Geschichte der Bauern endete?
Sie bauten eine Brücke über den Fluss und besuchten sich gegenseitig auf der Sonnenseite, um diese gemeinsam zu geniessen. Irgendwie auch keine schlechte Idee!