Grün über dem Kopf
Dachbegrünung wirkt der Sommerhitze entgegen. Unsere Analyse von Luftbildern deutet auf noch grosses Potenzial.
Text: Isabella Kübler, Analytics Immobilien
Dicht bebaute und stark versiegelte Quartiere neigen zur Überhitzung, da Asphalt und Beton Wärme lange speichern. Mit der voranschreitenden Klimaerwärmung müssen wir Sorge tragen, dass auch urbane Quartiere lebenswert bleiben. Eine mögliche Lösung ist die verstärkte Begrünung. Vegetation hat durch die Verdunstung von Wasser einen kühlenden Effekt auf das Mikroklima. Ausserdem filtern Pflanzen Schadstoffe und Staub aus der Luft, fördern die Biodiversität und Verzögern den Abfluss von Niederschlagswasser.
Aber wo sollen diese Grünflächen entstehen, wenn der Platz sowieso schon knapp ist? Schon vor über 100 Jahren wusste der Schweizer Architekt Le Corbusier, dass die Zukunft einer Stadt auf dem Dach liegt. Im Jahr 1923 prophezeite er: «Der Dachgarten wird zum bevorzugten Aufenthaltsort des Hauses und bedeutet ausserdem für eine Stadt den Wiedergewinn ihrer bebauten Fläche.» In der heutigen Zeit ist diese Aussage treffender denn je, denn die Dachbegrünung ist eine wirksame Massnahme gegen Überhitzung. Dies gilt gerade dort, wo Flachdächer vorherrschen, denn diese lassen sich relativ einfach begrünen.
Flachdach gleich Urbanität
Flachdächer dominieren gegenüber den Giebeldächern vor allem in den grösseren Städten und in den Agglomerationsgemeinden (s. Karte unten). In Schlieren, Kloten und Opfikon machen die Flachdächer über 60 Prozent aller Dachflächen aus. Die ländlichen Regionen sind hingegen aufgrund der vorherrschenden Einfamilienhäuser vom Giebeldach geprägt, ebenso wie die Zürcher Altstadt und der Zürichberg (s. Karte der Stadtkreise). In den Stadtkreisen 5, 9 und 11 hingegen ist mehr als 50 Prozent der Dachfläche flach. Das sind gute Neuigkeiten. Abgesehen von historischen Altstadtkernen und gehobenen Wohngebieten ist das Potenzial für Dachbegrünung somit dort am höchsten, wo die Sommer in Zukunft besonders schweisstreibend sein werden: in urbanen, dicht bebauten Wohngebieten.
Städte und Agglo mit vielen Flachdächern
Flächenanteil Flachdächer pro Gemeinde in Prozent
Flächenanteil Flachdächer in den Kreisen der Stadt Zürich
Dachbegrünung messen
Die positiven Effekte der Dachbegrünung wollen sich manche Gemeinden im Kanton Zürich zunutze machen. In der Stadt Zürich ist die extensive Dachbegrünung – mit standortangepassten Pflanzen, die auch bei geringem Pflegeaufwand gut wachsen – bei Neubauten und Sanierungen von Flachdächern bereits seit 1991 Pflicht. Die ökologische Umgestaltung von Kiesdächern wird sogar mit kostenlosen Beratungen und finanzieller Unterstützung gefördert. Ähnliche Richtlinien gibt es z.B. in der Stadt Winterthur oder in Kloten. Andere Gemeinden wie unter anderem Opfikon, Küsnacht oder Dietlikon haben ebenfalls Vorgaben für die Dachbegrünung. Diese sind aber weniger streng und gelten z.B. nur in ausgewählten Bauzonen oder ab einer gewissen Grösse des Flachdaches.
Vorschriften lassen in den genannten Gemeinden bunte und lebendige Dachlandschaften erwarten, doch wie sieht es in der Realität aus? Mithilfe spezieller Luftbilder mit Infrarotaufnahmen des Kantons Zürich aus dem Sommer 2020 haben wir die Begrünung auf Flachdächern identifiziert. Dies erfolgte über die Auswertung des Infrarotkanals, da gesunde Pflanzen stark in diesem Bereich reflektieren. Diese Methode des «normierten differenzierten Vegetationsindex» (NDVI) zeigt detailliert auf, ob und wie stark ein Flachdach begrünt ist (Beispiele unten)1.
Beispiele von Dachbegrünungen
Links Luftbild, rechts Klassifizierung (je grüner, desto vitaler die Pflanzen)
Fehlt Grün am Boden, sind oft auch die Dächer grau
Gemeinden haben Aufholpotenzial
Für einen Vergleich haben wir pro Gemeinde für alle Flachdächer die begrünte Fläche berechnet (Grafik unten). Die Anteile sind generell nicht sehr hoch. Zu beachten ist aber, dass eine vollständige Begrünung nahezu unmöglich ist, da bei den meisten Dächern noch Photovoltaikanlagen oder weitere Aufbauten vorhanden sind. Vor allem aber gibt es noch viele ältere Dächer gänzlich ohne Begrünung. Zwischen den analysierten Gemeinden gibt es grosse Unterschiede. Kloten schneidet am besten ab: Über 12 Prozent der Flachdachfläche aller Gebäude sind begrünt. Ein Paradebeispiel für gute Dachbegrünung ist der Flughafen Zürich. Auf dem neu gebauten Circle wird diese sogar mit Photovoltaikanlagen kombiniert. Auch die Wohngebäude sind in Kloten gut begrünt. Dies ist wichtig, weil die Grünfläche nur die unmittelbare Umgebung kühlt und selbst eine grosse Fläche wie am Flughafen wenig Einfluss auf das Mikroklima in den Wohngebieten in Kloten hat. Ein ähnlich positives Bild zeigt sich in den Nachbargemeinden Wallisellen und Dietlikon.
In Opfikon und Schlieren ist das aufgrund des hohen Flachdachanteils (s. Grafik oben) grosse Potenzial für Dachbegrünung hingegen weniger gut ausgeschöpft. Diese beiden weisen unter den von uns untersuchten Gemeinden die tiefsten Werte auf. Die perspektivisch noch zunehmende Anzahl Hitzetage sollte Anlass genug sein, das Bewusstsein für die Thematik zu schärfen und lebendige Dächer zu fördern. In der Stadt Zürich sind Hitzeinseln hingegen schon länger ein Thema. Dennoch ist der Anteil begrünter Dachfläche eher tief. Wirft man einen genaueren Blick auf die Luftbilder, wird deutlich, dass vielfach die Vegetation bereits abgestorben ist. Eins muss man sich eingestehen: Auch eine extensive Begrünung mit widerstandsfähigen Pflanzen funktioniert nicht ohne eine gewisse Pflege.
Deutliches Verbesserungspotenzial bei der Dachbegrünung
Anteil begrünte Fläche auf Flachdächern pro Gemeinde und Nutzung in Prozent
Zunehmende Nutzungskonflikte
Gerade in der Stadt kommt es auf den Dächern zu immer mehr Nutzungskonkurrenzen, denn die Aussenflächen gewinnen an Wert. Auf Bürogebäuden oder Einkaufszentren entstehen Terrassen für Mitarbeitende oder für Restaurants. Bei Neubauten von Wohngebäuden werden auf dem obersten Stockwerk oft Attikawohnungen mit grosszügigen Terrassen, zum Teil noch mit Dachterrassen über dem Wohnbereich, realisiert, die den Preis deutlich erhöhen. Grüne Dächer sind in den Augen von Immobilienentwicklern folglich eher von sekundärer Bedeutung. Auch die im Jahr 1991 eingeführte Pflicht zur Dachbegrünung in der Stadt Zürich kann diesem Nutzungskonflikt nur bedingt entgegenwirken. Zwar sind die Dächer von Gebäuden der Baujahre 1991 bis 2000 auch heute noch häufiger begrünt als ältere Gebäude (s. Grafik unten), seit der Jahrtausendwende scheint aber die zunehmende Nutzungskonkurrenz die positive Entwicklung gebremst zu haben. Dabei wäre gerade auch bei Attikawohnungen auf längere Sicht eine forcierte Dachbegrünung anzuraten, denn mit der Zunahme der Temperaturen dürften diese Wohnungen ohne Hitzeminderungsmassnahmen an Attraktivität einbüssen.
Nutzungskonflikte verhindern Dachbegrünung
Anteil zu mindestens 20 Prozent begrünter Flachdächer in der Stadt Zürich nach Bauperiode in Prozent
Hitzeinseln bekämpfen
Die Dachbegrünung ist besonders dort wichtig, wo der Versiegelungsgrad hoch ist. Es stellt sich also die Frage, ob Gebiete mit weniger Begrünung am Boden vermehrt auf Gründächer setzen. Wir haben deshalb mit der oben genannten NDVI-Methode zusätzlich die Bodenbegrünung in den Siedlungsgebieten der Stadt Zürich gemessen. Dieses Mal haben wir nur Vegetation berücksichtigt, die auf dem Boden wächst, Gebäude blieben aussen vor. Gesamthaft betrachtet ist der Boden in der Stadt Zürich mit einem Anteil von 56 Prozent gut begrünt. Es gibt aber grosse Unterschiede zwischen den Stadtkreisen (s. Karte zu den Stadtkreisen oben). Am besten schneiden die Kreise 10, 7 und 2 ab, wo mehr als 60 Prozent der Siedlungsfläche begrünt ist. Diese Kreise sind generell weniger urban, es gibt noch viele Einfamilienhäuser mit Garten sowie mehr Bäume und Wiesen. In den Kreisen 1, 4 und 5 ist hingegen die Versiegelung sehr hoch, zum Teil ist weniger als 25 Prozent der Fläche grün. Ein bekanntes Beispiel ist der Turbinenplatz im Kreis 5. Die Begrünung ist trotz Nachbesserung immer noch spärlich. Umso wichtiger wären deshalb Gründächer im Umfeld. Aber auch die Begrünung auf der obersten Etage funktioniert hier nicht optimal. Die Kombination von wenig Grün sowohl am Boden wie auf dem Dach ist hinsichtlich der Bekämpfung von Hitzeinseln ungünstig. Vor allem in den Kreisen 4 und 5 könnten die vielen Flachdächer besser ausgenutzt und so die Überhitzung wirksamer bekämpft werden.
Begrünung zahlt sich aus
Der initiale finanzielle Aufwand für die Begrünung eines Daches kann abschreckend wirken. Die Statik des Gebäudes muss die zusätzliche Last der Substratschicht tragen, deshalb lohnt sich die Begrünung in erster Linie bei Sanierungen oder Neubauten. Auch die Pflege, vor allem von intensiv begrünten Flächen, muss konsequent umgesetzt werden, damit das Zusammenspiel zwischen Pflanzen und Dach funktioniert. Langfristig gesehen bringt die Dachbegrünung aber finanzielle Vorteile: Vegetations- und Substratschicht schützen die Dachabdichtung vor UV-Einstrahlung und Witterungseinflüssen wie Hitze und Hagel. Die Lebensdauer eines Daches lässt sich damit fast verdoppeln. Des Weiteren führt die isolierende Wirkung der Vegetation zu geringeren Kühl- und Heizungskosten. Die höheren Ausgaben für die Pflege können dadurch mindestens zum Teil kompensiert werden. Auch in Kombination mit Photovoltaikanlagen wurden vorteilhafte Wechselwirkungen beobachtet. Der kühlende Effekt der Vegetation hat einen positiven Einfluss auf die Leistungsfähigkeit der Anlagen, die Stromproduktion nimmt zu. All diese Vorteile sollten Immobilienbesitzer dazu motivieren, ihr Dach zu begrünen und zu pflegen.
Viele Gemeinden haben die Weichen für grünere Dächer mit Vorgaben oder Förderprogrammen schon gestellt. Auch auf Kantonsebene haben Vorlagen zur Dachbegrünung gute Chancen, in der näheren Zukunft umgesetzt zu werden. Mehr als hundert Jahre später könnte sich die Prophezeiung von Le Corbusier doch noch bewahrheiten: Die fünfte Fassade hat das Potenzial, zur natürlichen Klimaanlage unserer Städte zu werden.
1 Die Analysen wurden in Zusammenarbeit mit Esri Schweiz konzipiert.