Leerkündigungen – ein Dilemma
Bislang gibt es wenige gesicherte Erkenntnisse über die Folgen von Entmietungen ganzer Mehrfamilienhäuser. Neue Daten zeigen, dass diese für die Betroffenen unangenehm, insgesamt aber weniger dramatisch sind als vielfach vermutet. Dennoch werfen einige Leerkündigungen Fragen auf.
Text: Jörn Schellenberg und Ingrid Rappl, Analytics Immobilien
Immer wieder kursieren in den Medien Berichte, wonach sämtlichen Mietern eines Mehrfamilienhauses die Wohnung gekündigt wurde. In diesem Zusammenhang gilt es verschiedene Interessen gegeneinander abzuwägen. Einerseits sind da die betroffenen Mieter, die ihr vertrautes Umfeld nicht verlassen wollen und kaum eine vergleichbar günstige Wohnung in der Nähe finden. Die Rückkehr ist oftmals auch keine Option: Nach der Sanierung und erst recht nach der Erstellung eines Ersatzneubaus können sich gerade die langjährigen Mieter die deutlich höhere Wohnqualität nicht mehr leisten. Andererseits muss man den Immobilieninvestoren zugestehen, an ihren Gebäuden umfangreiche Sanierungen vorzunehmen, die nicht im bewohnten Zustand erfolgen können. Mit den Klimazielen liegt schliesslich eine grosse Aufgabe vor uns. Der Wechsel zur klimafreundlichen Heizung ist vielerorts sogar vorgeschrieben und damit letztlich auch eine allenfalls erforderliche Sanierung der Gebäudehülle. Umbauten, Anbauten und Ersatzneubauten sind zudem ein probates Mittel zur Innenverdichtung, um die dringend notwendige Erhöhung des Wohnungsangebotes voranzutreiben. Wir stehen hier offenbar vor einem Dilemma!
Unsere Auswertung der Umzüge in den Jahren 2018–2022 auf Basis anonymisierter Personenregisterdaten zeigt, dass die Situation für die betroffenen Mieter nach objektiven Kriterien insgesamt weniger dramatisch ist als vielfach vermutet.
Das Ausmass von Leerkündigungen
In der gesamten Schweiz gab es im genannten Zeitraum jährlich mehr als 2’000 leergekündigte Mehrfamilienhäuser mit knapp 30’000 Bewohnern, hauptsächlich in den grossen Städten und Tourismuszentren (s. Grafik).
Leerkündigungen konzentrieren sich auf Städte und Ferienregionen
Betroffene Gebäude 2018–2022 pro Bezirk (Karte) und die 15 Gemeinden mit der grössten Anzahl
Allein auf die Stadt Zürich entfielen in den fünf Jahren 1’270 der schweizweit insgesamt 10’900 entmieteten Mehrfamilienhäuser. Mit einem Anteil von beinahe 12 Prozent an allen Leerkündigungen dominiert die grösste Schweizer Stadt den Städtevergleich deutlich. Allerdings gehörte jedes vierte in der Limmatstadt geräumte Gebäude gemeinnützigen Wohnbauträgern, vor allem Genossenschaften, vereinzelt Stiftungen und Gemeinden. In diesem Segment handelt es sich nicht um Kündigungen des Mietverhältnisses im eigentlichen Sinne. Die Betroffenen können weiterhin Mitglied der Genossenschaft bleiben und in der Kostenmiete oder sogar subventioniert wohnen. Im Idealfall bekommen sie dauerhaft eine andere Wohnung des Bauträgers angeboten oder ziehen nur zur Zwischenmiete um und kehren später zurück.
Die gemessen an der Bevölkerungszahl zweitgrösste Stadt der Schweiz, Genf, steht in dieser Liste noch hinter Davos auf Rang 8. Jährlich werden lediglich 20 Gebäude entmietet, jedes Fünfte von einem gemeinnützigen Wohnbauträger. Die Zurückhaltung ist das Resultat eines besonderen Mieterschutzes, bei dem Genf seit Jahrzehnten Vorreiter ist. Strenge Regeln mit aufwendigen Genehmigungsverfahren mindern die Anreize für Investitionen in die Gebäude, da sich die Kosten nur sehr beschränkt auf die Mieten umlegen lassen. Auch in Basel, das im betrachteten Zeitraum mit 380 noch die zweitmeisten Leerkündigungen aufwies, entwickelt sich der Mieterschutz zunehmend in Richtung einer stärkeren Regulierung des Wohnungsmarktes. Seit Inkrafttreten der Wohnschutzinitiative im Mai 2022 wurden bestehende Regelungen nochmals verschärft. Nun gelten auch hier in Zeiten von Wohnungsnot, d.h. bei einem Leerstand von 1,5 Prozent oder weniger (aktueller Wert 0,8 Prozent), für sämtliche Wohngebäude bei Renovationen ein aufwendigeres Genehmigungsverfahren, ein deutlich eingeschränkter Spielraum für Mieterhöhungen und ein explizites Rückkehrrecht der von Leerkündigung Betroffenen. Die hohe Zahl der Entmietungen vor Inkrafttreten der neuen Regelung in Basel lässt vermuten, dass Investoren Sanierungen vorgezogen haben, um der Mietzinskontrolle zu entgehen. Mittelfristig dürfte Basel mit den geänderten Rahmenbedingungen punkto Leerkündigungen und Sanierungen auf das Niveau von Genf zusteuern.
Regulierung kennen wir auch in Tourismusgemeinden. Hier geht es allerdings in die andere Richtung: Infolge der Annahme der Zweitwohnungsinitiative wurde der Anteil in den Gemeinden auf maximal 20 Prozent begrenzt. Der Bau von Zweitwohnungen wurde damit in den beliebtesten Tourismusgemeinden, die allesamt den zulässigen Anteil weit überschritten haben, stark eingeschränkt. Die Nachfrage hat aber nicht zuletzt im Zuge der Pandemie und des Aufkommens von Homeoffice weiter zugenommen. Zweitwohnungen sind in den vom Zweitwohnungsgesetz betroffenen Gemeinden heute durchschnittlich ein Drittel teurer als Erstwohnungen. Das macht es umso lukrativer, altrechtliche Erstwohnungen, d.h. solche, die vor der Abstimmung im März 2012 bereits bestanden oder bewilligt waren, legal zu Zweitwohnungen umzunutzen. Bei Umbauten und Ersatzneubauten darf die Nutzfläche sogar um bis zu 30 Prozent erhöht werden. Es verwundert daher kaum, dass von Sonne und Schnee geküsste Berggemeinden wie Davos, Val de Bagnes, Flims, Saanen, Zermatt und Grindelwald trotz ihrer eher bescheidenen Anzahl an Mehrfamilienhäusern zu den Orten mit den meisten Leerkündigungen der Schweiz gehören. Dies dürfte neben Einheimischen vor allem saisonal Beschäftigte in Gastronomie, Hotellerie und bei den Bergbahnen treffen, die nun von weiter her anreisen müssen.
Kaum weniger Unterbelegung nach Leerkündigung
Die Kündigung des Mietverhältnisses kann in jeder Lebensphase erfolgen. Hinsichtlich der Anzahl zeigt die Altersverteilung, dass dies vor allem junge Erwachsene betrifft, die ohnehin am häufigsten umziehen (s. Grafik unten).
Leerkündigungen treffen vor allem die umzugsfreudigsten Altersklassen
Anteil jeder Altersklasse an Umzügen (freiwillig und nach Leerkündigung) in Prozent
Nur wenige Leergekündigte sind bereits im Rentenalter. Allerdings ziehen Ältere gewöhnlich kaum noch um, selbst dann nicht, wenn die Kinder längst ausgezogen sind. Mehr als die Hälfte der über 65-Jährigen lebt daher bereits in unterbelegten Wohnungen. Das heisst die Zimmerzahl übertrifft die Personenzahl um mehr als 1. Etwas überraschend ist, dass auch nach einem erzwungenen Umzug noch gut ein Drittel der Älteren in einer unterbelegten Wohnung wohnt (s. Grafik unten). Trotz des Wechsels von der Bestandes- auf die Angebotsmiete kann und will sich somit ein beträchtlicher Teil der über 65-Jährigen weiterhin grosszügigen Wohnraum leisten. Noch deutlicher äussert sich der Wohlstand bei den 20- bis 40-Jährigen. Beim freiwilligen Umzug ist eine grössere Wohnung im Rahmen der Familiengründung ohnehin ein zentrales Umzugsmotiv. Aber selbst diejenigen, die in diesem Alter infolge einer Entmietung umziehen müssen, schaffen es oftmals, am neuen Ort die Zahl der verfügbaren Zimmer sogar zu erhöhen. Kinder wachsen insgesamt selten in einer unterbelegten Wohnung auf. Da jedoch Familien zum Zeitpunkt der Leerkündigung offenbar teilweise schon für weiteren Nachwuchs planen, können die Jüngsten eher noch nach der Leerkündigung für einige Jahre ihre ersten Gehversuche in einer unterbelegten Wohnung starten. Alles in allem führen Entmietungen aufgrund der finanziellen Möglichkeiten der betroffenen Mieter indes nur zu einer geringfügig effizienteren Wohnraumbeanspruchung
Die Unterbelegung nimmt nach Leerkündigung kaum ab
Anteil Personen in unterbelegter Wohnung vor und nach erzwungenem Umzug nach Altersklassen in Prozent
Der Grad der Verdrängung
Es steht vollkommen ausser Frage, dass diejenigen, denen das traute Heim gekündigt wird, am liebsten in der Nähe bleiben. Schliesslich wollen sie die lang gehegten sozialen Kontakte nicht missen, die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes nicht verlieren und weiter im gewohnten Umfeld einkaufen. Erstaunlicherweise gelingt das weitgehend: Zwei Drittel der Betroffenen finden innerhalb der Gemeinde eine neue Wohnung, weitere 12 Prozent kommen in einer Nachbargemeinde unter. Familien mit Kindern im schulpflichtigen Alter bleiben sogar zu annähernd 80 Prozent in der Gemeinde, um den Kindern den Schulwechsel zu ersparen. Von den über 65-Jährigen, die in einer grösseren Stadt wohnen, bleiben 84 Prozent in der Stadt und davon mehr als die Hälfte sogar im Quartier. Die Umzugsdistanzen sind daher im Vergleich zu freiwilligen Umzügen eher gering. Sie nehmen angesichts der stärkeren Verwurzelung mit dem Alter ab und sind bei den jungen Erwachsenen am grössten (s. Grafik unten). Deren etwas grössere Umzugsdistanz wird wie aufgezeigt in der Tendenz mit einer grösseren Wohnung belohnt. Alles in allem helfen die persönlichen Beziehungen den Leergekündigten offenbar in den meisten Fällen dabei, weiterhin in der Umgebung wohnen zu können.
Die Mehrheit bleibt nach Leerkündigung in der Gemeinde
Umzugsdistanz pro Altersklasse in Prozent
Leerkündigungen nur vorgeschoben?
Bei Leerkündigungen steht häufig die Frage im Raum, ob diese unangemessen sind. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn lediglich «Pinselrenovationen» erfolgen, die auch im bewohnten Zustand möglich wären. Die Mutmassungen konzentrieren sich vor allem darauf, dass Vermieter ihren Mietern kündigen, um die Mieten auf das aktuelle Marktniveau zu heben. In den Städten, allen voran Zürich, wo die Angebotsmieten seit 2016 gemäss des Homegate-Angebotsmietindexes um satte 38 Prozent gestiegen sind, ist die Differenz zwischen Neu- und Bestandesmieten besonders gross und ein Mieteraustausch daher umso lukrativer.
Werfen wir einen Blick auf die Daten, lässt sich zumindest sagen, dass 80 Prozent der entmieteten Gebäude in der Schweiz älter als 40 Jahre sind (s. Grafik unten). Ein gewisser Renovationsbedarf ist bei diesen Altbauten nicht von der Hand zu weisen. Zudem fällt auf, dass bei mindestens 16 Prozent der Leerkündigungen gar ein Totalabriss zugunsten von Neubauten erfolgte. Mit den stark gestiegenen Landwerten besteht für Investoren ein beachtlicher Anreiz, vorhandene Ausnützungsreserven und damit zusätzliche Mieteinnahmen über eine Nachverdichtung mit Neubauten zu realisieren. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ohnehin umfassende Sanierungen notwendig werden, die Grundrisse nicht mehr heutigen Bedürfnissen entsprechen und der Unterhaltsaufwand steigt. Wenngleich selbst ältere Gebäude aufgrund bereits erfolgter Renovationen in einem guten Zustand sein können, sind Zweifel an der Angemessenheit der Kündigung zumindest bei den 10 Prozent der Gebäude, die erst nach 2000 entstanden sind, angebracht.
Leerkündigungen überwiegend bei älteren MFH mit potenziellem Sanierungsbedarf
Leerkündigungen nach Gebäudebaujahr und Kündigungsgrund
Dilemma vs. Drama
Obwohl die meisten nach der Kündigung ihres Mietverhältnisses immerhin im näheren Umfeld fündig werden und sich teilweise gar grössere Wohnungen leisten können, bleiben Leerkündigungen durchaus ein Dilemma. Sie sind notwendig für die klimafreundliche Modernisierung und den flächeneffizienten Ausbau des Wohnungsangebotes. Betroffenen hilft die mit der Leerkündigung verbundene Aufwertung jedoch meistens nicht. Ganz im Gegenteil: Jeder muss wohnen, aber nicht jeder kann sich die gehobene Lebensqualität leisten. Daher sind gerade in den Städten der Erhalt und die Entstehung von günstigem Wohnraum immens wichtig. Dazu gehört auch, dass Aufstockungen hinsichtlich der erlaubten Ausbaufläche und des Bewilligungsaufwandes attraktiver werden, um im Rahmen der baulichen Verdichtung möglichst viele erschwinglichere Altbauwohnungen zu erhalten. Wenn Investoren Sanierungen, Um- oder Anbauten nicht schrittweise durchführen und eine Räumung des Gebäudes verhindern können, sollten sie die notwendige Entmietung möglichst frühzeitig ankündigen und ihre Mieter bei der Wohnungssuche unterstützen. Im Idealfall bieten sie ihnen frei werdende bezahlbare Wohnungen in anderen Objekten ihres Portfolios an. Da in den besonders von Leerkündigungen betroffenen Gemeinden zumeist ohnehin schon Wohnungsknappheit herrscht, braucht es hier am nötigsten zusätzlichen günstigen Wohnraum, damit das Dilemma künftig nicht häufiger zum Drama wird.