Zwischen Zahlen und Zylindern
Normalerweise arbeitet sie als Filialleiterin mit Laptop, Kalkulationstabellen und Kundendossiers. Doch manchmal hantiert sie auch mit Strassenkarte, Stoppuhr und Motorenöl: Dann ist Alona Müller unterwegs auf einer Oldtimerrallye. Wir begleiten sie auf einer kurzen Ausfahrt am Zürichseeufer.
Text: Patrick Steinemann
Blassgelb, Automatikgetriebe, 2,8 Liter, sechs Zylinder, 135'000 Kilometer, Jahrgang 1975: Der Mercedes-Benz ist im besten Alter und voll im Schwung. Beschwingt ist auch seine Fahrerin und Besitzerin, die sich nun mit einem Lächeln hinters Lenkrad setzt: Alona Müller, Leiterin der Filialen Stäfa und Hombrechtikon der Zürcher Kantonalbank, weisse Bluse, dunkle Business-Hose, beige Stilettos , Jahrgang 1970. «Wenn ich in dieses schöne Auto steige, bin ich einfach glücklich», sagt sie. Dann geht es auch schon los zu einer kleinen Runde am Zürichseeufer.
Wenn Alona Müller mit ihrer stilvollen Limousine bei einer Kundin oder einem Kunden vorfährt, ergibt sich der Gesprächsauftakt jeweils ganz von alleine: Erklärungen zu Wertschriften und Kontolösungen müssen dann erstmal warten, bis die automobilen Jugenderinnerungen angesteuert und die nostalgischen Gedankenfahrten ihrer Kundschaft absolviert sind.
Geschäftsauto und Rallyefahrzeug
Was Alona Müllers Kunden meist nicht wissen: Der Mercedes ist nicht nur ein edles Auto für geschäftliche Termine. Sondern auch ein zuverlässiger Wagen für Fahrten der besonderen Art. Dann tauschen Alona Müller und ihre Freundin Monika die Blusen mit T-Shirts, die Businesshosen mit Shorts und die Stilettos mit Sportschuhen. Sie lassen den Laptop auf dem Büropult, schnappen sich dafür Klemmbrett, mechanische Stoppuhr und eine Flasche Motorenöl. Und sind bereit für das Alpenbrevet, die Arlberg Classic oder die Strade del Vino – Oldtimerrallyes für Fahrzeuge, die mindestens 30 Jahre alt sind.
Der Mercedes schnurrt durch Stäfa, das UKW-Radio mit ausfahrbarer Antenne liefert den passenden Oldies-Soundtrack dazu. Und Alona Müller erzählt: «Den Autoklassikern verfallen bin ich 2015 beim legendären Rennen 'Mille Miglia' in Italien.» Damals war sie nur als «Anschieberin», das heisst als Unterstützerin eines Teams dabei. Doch schon bald sass sie selbst in einem Oldtimer am Start einer Rallye. «Um Geschwindigkeit geht es dabei zwar auch», sagt Alona Müller. «Allerdings nicht ums Tempo bolzen, sondern viel mehr um Gleichmässigkeit und das ideale Timing für einzelne Streckenabschnitte.» Eine solche Werteprüfung innerhalb einer Rallye kann etwa sein, einen Teil-Parcours von 400 Meter in exakt 36 Sekunden zurückzulegen. Genaues Kopfrechnen für den richtigen Tachostand ist dabei genauso wichtig, wie ein Gefühl für den richtigen Druck aufs Gaspedal.
Vor allem aber geht es bei einer Oldtimerrallye darum, den richtigen Weg zum Tagesziel zu finden. Den Streckenbeschrieb liefert jeweils ein Roadbook mit Zeit- und Kilometerangaben sowie den skizzierten Hinweisen, wo und wie abzubiegen ist. «Zeit für Zweifel bleiben da meist nicht», sagt Alona Müller. «Noch wichtiger als die Fahrerin ist deshalb die Co-Pilotin, die navigiert. Sie sagt, wo es langgeht – und trägt auch die Verantwortung, wenn der Weg abhandenkommt.» Je nach Fahrzeug, mit dem sie unterwegs sind, wechseln sich Alona Müller und ihre Team-Gefährtin Monika in den Positionen ab.
Unterwegs auf zwei und vier Rädern
Der Mercedes meistert eine Steigung Richtung Hombrechtikon mit kaum hörbarer Anstrengung des Motors, durchs offene Schiebedach weht die frische Morgenluft herein. Alona Müller taucht derweil in ihrer Erzählung tief in ihre Jugend ab: «Das mehr oder weniger schnelle Fahren auf zwei oder vier Rädern habe ich schon früh praktiziert.» Mit 14 Jahren schraubte sie zuhause in Lettland am ersten eigenen Ost-Moped. Später fuhr sie in Deutschland grössere Motorräder über Autobahnen und Moto-Cross-Pisten. Nach ihrer Ankunft in der Schweiz entdeckte sie schliesslich die Berge und Pässe – und den sonoren Klang einer Harley-Davidson. Als Ausgleich fuhr sie jeweils mit dem Rennrad zur Arbeit nach Stäfa. Heute muss sich das zweirädrige Fahrrad die Aufmerksamkeit mit dem vierrädrigen Mercedes teilen.
Drei-, viermal pro Jahr nimmt Alona Müller an Oldtimerrallyes teil. Diese können ganz unterschiedlich gestaltet sein: Mal nehmen 24 Fahrzeuge teil, mal 400. Mal führt eine Etappe bei Tageslicht 250 Kilometer durch italienische Weinberge; mal geht ein Rennen bei Mondschein über 11 Schweizer Pässe und eine Distanz von 830 Kilometern. «Die 16 Stunden der Alpenbrevet-Rallye vom Nachmittag bis am nächsten Morgen waren zwar ganz speziell, aber auch ziemlich anstrengend», erinnert sich Alona Müller. Die geforderten Fähigkeiten am und neben dem Steuer sind aber bei jeder Rallye die gleichen: Geschicklichkeit, Cleverness – und Teamwork. «Die Grundkonstellation und das gegenseitige Vertrauen müssen stimmen, sonst können wir nicht zusammen fahren und gewinnen. Aber wir müssen auch mal konstruktiv streiten können.»
Nur im Team zum Erfolg
Aus ihren Rallyeteilnahmen nimmt Alona Müller immer auch etwas mit in ihren Beruf. «Wie im Auto-Cockpit tun auch im Geschäftsalltag Perspektivenwechsel gut. So lernen wir, Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen und das Gegenüber besser zu verstehen.» Wie in einer Rallye tauschen deshalb auch Müllers Mitarbeitenden der Filialen Stäfa und Hombrechtikon gelegentlich die Arbeitsorte und Funktionen und erweitern so ihren Horizont. Daneben bewähre es sich, auf einer Rallyefahrt wie im Bankenalltag, die eigenen Ressourcen zu kennen, vorausschauend zu handeln und stets eine Strategie für den Tag und die anstehenden Aufgaben bereit zu haben, meint Alona Müller. «Umso gelassener können wir dann reagieren, wenn unvorhergesehene Dinge auf uns zukommen.» Etwa, wenn bei einer Rallye plötzlich eine Herde Kühe mitten auf dem Fahrweg steht.
Alona Müller biegt mit ihrem Mercedes wieder ein in den Parkplatz vor der Filiale Stäfa. Sie dreht den Schlüssel im Zündschloss, lehnt sich zurück im Ledersitz – und erzählt zum Schluss noch von ihrem ganz grossen Fahrtraum: Die Oldtimerrallye Peking-Paris, 12 Länder, 37 Tage, 14'000 Kilometer. «Das richtige Fahrzeug dafür habe ich schon mal.» Der Mercedes schweigt sich vornehm aus. Aber irgendwie ist klar: Fahrzeug und Fahrerin werden noch einige rollende Glücksmomente zusammen erleben.