Insofern ist es höchste Zeit, dass wir dem Thema Biodiversität mehr Aufmerksamkeit schenken.
Absolut. Die Biodiversität nimmt grundsätzlich zwar in unterschiedlichem Masse, doch global betrachtet nun einmal stark ab. In der Wissenschaft wird von sogenannten «Kipppunkten» gesprochen. Bedeutet: Das Verschwinden einer bestimmten Anzahl von Arten aus einem Ökosystem führt zu einem Kippen des Systems – mit der Folge extremer Veränderungen der Umwelt. Dies hat dann grosse negative Auswirkungen auf den Menschen. Das Bewusstsein für die Relevanz dieses Themas hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, auch aufgrund der drastischen Verschärfung der Situation, sprich der starken globalen Abnahme der Artenvielfalt, die heute durch Daten belegt werden kann. Dennoch ist für uns Menschen der unmittelbare Effekt auf uns und unsere Wirtschaft noch nicht gross genug, um die Risiken vollständig zu erfassen.
Im Hinblick auf den Frühlingsbeginn: Was kann eine Privatperson im Kleinen bewirken?
Jede und jeder kann mithelfen, die Vielfalt der heimischen Insekten und Pflanzen fördern und auf dem eigenen Balkon wunderbare Naturerlebnisse schaffen. Der Schlüssel dazu liegt in der Auswahl der Pflanzen, weil diese die Grundlage der Nahrungskette bilden. Es gibt eine grosse Palette an heimischen Wildpflanzen, die nicht nur die richtige Nahrung für unsere Insekten bieten, sondern auch den eigenen Balkon schmücken. Das Schlüsselwort hierbei ist «heimisch», denn nichtheimische, also exotische oder gar invasive Pflanzen sind für die Biodiversität weitgehend nutzlos oder gar schädigend. Die Auswahl ist bei über 3'000 heimischen Pflanzen riesig. Besonders empfehlenswert für den Balkon sind Witwenblumen, Glockenblumen, heimische Astern oder mein persönlicher Favorit die Ochsenaugen, die als wahre Magneten für Wildbienen und Insekten gelten. Für Personen, die nicht regelmässig giessen können oder es gelegentlich vergessen, sind Steinbrech oder Mauerpfeffer ideale Pflanzen – der nicht ganz so grüne Daumen ist also keine Ausrede. Mit zunehmendem Platz oder gar einem eigenen Garten nimmt das Potenzial zur Förderung der Biodiversität exponentiell zu. So können auch Bäume wie zum Beispiel Weiden oder Kirschbäume, vielfältige Wildhecken oder Blumenwiesen gepflanzt werden.
Welche Arten tragen weniger zur Artenvielfalt bei oder haben keinen signifikanten Nutzen?
Ein typisches Beispiel hierfür sind Pelargonien, umgangssprachlich Geranien, und Forsythien. Diese bieten keinen Mehrwert für Insekten und tragen leider nicht zur Förderung unserer einheimischen Biodiversität bei. Ironischerweise glauben viele Menschen fälschlicherweise genau das Gegenteil – wahrscheinlich aufgrund der auffälligen Blütenpracht dieser Gewächse im Frühling. Zudem rate ich von invasiven Arten wie Kirschlorbeer oder Thuja ab. Daher ist es ratsam, im Voraus zu recherchieren, welche Pflanzen heimisch sind und ob sie einen Beitrag zur heimischen Biodiversität leisten. Was ich jedem empfehlen kann, ist hingegen das Einrichten eines Bienenhauses auf dem eigenen Balkon.
Welchen Nutzen hat es?
Einerseits bietet es den Arten, die es nutzen können, eine geeignete Nistgelegenheit. Andererseits höre ich häufig, dass ein Bienenhaus eine positive Wirkung auf die Besitzerinnen und Besitzer hat, da diese dadurch erstmals ein positives Erlebnis mit einem Insekt erfahren. Die bereits erwähnte Ökosystem-Dienstleistung einer Biene besteht im Bestäuben von Blüten, und ein Bienenhaus ermöglicht es, die Bienen in dieser wichtigen Tätigkeit zu unterstützen. Besonders in urbanen Regionen stellt sich nun die Frage nach dem tatsächlichen Nutzen. Interessanterweise weisen bestimmte urbane Gebiete in der Schweiz, wie zum Beispiel die Stadt Zürich, eine vielfältigere Artenvielfalt auf als die Landwirtschaftszone im Mittelland. Dies resultiert vor allem aus der Existenz zahlreicher Nischen, kleiner Gärten und Grünflächen in städtischen Gebieten. In der Stadt Zürich lassen sich beispielsweise ca. 215 verschiedene Wildbienenarten finden, was eine beeindruckende Vielfalt darstellt. Durch diese hohe Diversität in den urbanen Regionen besteht das Potenzial, seltene Arten zu beherbergen. Deshalb ist es durchaus sinnvoll, im urbanen Raum Inseln zu schaffen, die ein reichhaltiges Nahrungsangebot und Nistgelegenheiten für die Bienen bereitstellen.
Vom Platz einmal abgesehen, inwiefern unterscheiden sich Balkon und Garten beim Pflegen der Biodiversität?
Der grosse Unterschied ist der Boden, der einen massgeblichen Einfluss auf die Biodiversität hat. In einem Garten lassen sich gezielt Tiere fördern, die am Boden leben, denn eine Wiese stellt einen vielfältigen Lebensraum für zahlreiche Tiere dar. Es ist daher essenziell zu verstehen, dass ein einziger Durchgang mit einem Rasenmäher dazu führen kann, dass etwa 95 Prozent der auf der Fläche lebenden Insekten getötet werden. Daher ist es von grosser Bedeutung, einen solchen Lebensraum für Tiere nicht nur zu schaffen, sondern ihn auch schonend zu behandeln. Konkret bedeutet dies, dass eine Wiese nicht zu häufig gemäht werden sollte – idealerweise ein- bis zweimal im Jahr. Darüber hinaus empfehle ich die Verwendung schonender Werkzeuge wie eine traditionelle Sense oder einen Balkenmäher. Zudem sollte eine Wiese in zwei Durchgängen gemäht werden, sodass Insekten von den gemähten Flächen in die noch stehende Wiese krabbeln können. Durch das Trocknen des Schnittguts auf der Wiese erhalten Insekten die Möglichkeit herauszukriechen und Samen sowie Gräser können herausfallen – dies fördert den langfristigen Artenreichtum einer Wiese. Zudem ist es wichtig sicherzustellen, dass im Garten keine Gefahren für Tiere wie Igel, Eidechsen oder Frösche lauern, wie beispielsweise ein ungesicherter Pool oder ein Gitterschacht ohne Ausstiegshilfe für Kleintiere.
Was ist im Unterhalt meines Balkons oder Gartens zu beachten?
Idealerweise sollte man auf den Einsatz von Chemikalien und chemischen Düngemitteln verzichten. Im Sinne der Biodiversität ist es wichtig zu erkennen, dass es Teil des natürlichen Kreislaufs einer Pflanze ist, von Schädlingen wie Läusen gefressen zu werden, da die Pflanze als Nahrung dient. Mit etwas Geduld werden in der Regel nach ein bis zwei Wochen Marienkäfer erscheinen, die die Läuse vertilgen. Nach etwa drei Wochen sind die Läuse verschwunden und die Pflanze erholt sich wieder. Dies bildet den gesamten natürlichen Kreislauf ab. Falls man jedoch diese Geduld nicht aufbringen möchte, empfehle ich auf natürliche Alternativen der Schädlingsbekämpfung zurückzugreifen.
Und wann ist der richtige Zeitpunkt, um das eigene Balkon- oder Gartenprojekt in Angriff zu nehmen?
Jetzt, im April und im Mai – der Frühling ist wie immer ein guter Zeitpunkt, um sich um seinen Garten oder Balkon zu kümmern und neue Pflanzen zu setzen.
Durch Biodiversität auf den Balkonen schaffen wir Lebensräume für Pflanzen und Tiere. Was können diese privaten Initiativen bewirken?
Es verhält sich wie bei vielen Dingen: Kleine Initiativen bilden die Grundlage für das grosse Ganze. Denn erst das Mosaik aus solchen Kleinst-Lebensräumen, die von Privatpersonen geschaffen werden, ergibt die kumulative Wirkung. Das bedeutet, je mehr Personen sich engagieren, desto wertvoller wird das gesamte Ökosystem im Siedlungsraum. Schlussendlich kann somit jede einzelne Privatperson im Kleinen dazu beitragen, den Rückgang der Biodiversität in ihrer Umgebung zu stoppen – ein Ziel, dem sich die Schweiz im Jahr 2022 auf der 15. Vertragsstaatenkonferenz der Biodiversitätskonvention verpflichtet hat.
Zuallerletzt: Was antworten Sie derjenigen Person, die ihren Urlaub auf Balkonien verbringen möchte, Bienen aber nicht gern um sich hat?
In dem Fall sollte man wohl besser kein Bienenhaus aufstellen. Was ich jedoch betonen möchte, ist, dass die intensive Aktivität der Bienen lediglich in einem sehr kurzen Zeitraum von zwei bis drei Wochen im Frühling stattfindet – sprich die Sommerferien sind von dieser Phase nicht betroffen. Zudem sind die meisten Wildbienenarten sehr klein, etwa von der Grösse einer Mücke, sodass man sie kaum wahrnimmt. Ein beruhigender Fakt ist ausserdem, dass Wildbienen kaum stechen – es besteht also kein Grund, sich vor ihnen zu fürchten.