Schwarz vor Augen wird diesem Hirsch nicht
Im neunten Teil dieser Kunstserie zu den Neuankäufen stellt Monika Fässler ihr besonderes Werk vor.
Text: Markus Wanderl / Bilder: Flavio Pinton
Aus seiner Zeit als hochdekorierter Küchenchef in jenem zum Gasthof Hirschen gehörenden Restaurant «La Passion», Eglisau, hat Christian Kuchler einmal von einem dort befindlichen Fundstück berichtet und dass er jener kleinen Hirsch-Metallfigur «einst versehentlich das Bein gebrochen» habe. Längst ist der Hirsch – das Markenzeichen des Hauses – wieder unversehrt.
Zeugt hier der kurzzeitige Verlust einer Gliedmasse von der Verletzlichkeit des sagenumwobenen Tieres, war diese Ende der 1860er Jahre buchstäblich auf die Spitze getrieben. Denn infolge von Bejagung und Raubbau am Wald hatte es hierzulande keine Hirsche mehr gegeben.
Pass und grüne Grenze
Dass jene gemäss Pro Natura ab 1870, in diesem für die Zürcher Kantonalbank ohnehin so besonderen Jahr, wieder nach Graubünden einwanderten und dafür die Alpenpässe Schweizertor, Schesaplana und Kleine Furka nahmen, muss hier unbedingt erwähnt sein: Heute soll es in der Schweiz wieder etwa 35'000 Hirsche geben. Doch grosses Glück braucht, wer ein Exemplar leibhaftig zu sehen bekommen will: Scheu ist er, der Hirsch, dies wie kein Zweiter.
Im 5. Stock, Standort City, nimmt ein Hirsch einen prominenten Platz ein auf dem dort gezeigten Bild des Künstlers Andriu Deplazes (*1993) – «Hirsch und weisse Weite» heisst es, Monika Fässler von der Zürcher Kantonalbank stellt es hier im neunten Teil unserer Kunstserie zu den Neuankäufen vor. Sie tut dies auf besondere Art und Weise, mit einem wohltuend eigenen Blick.
«Wir haben hier keinen mächtigen, vor Kraft strotzenden Hirsch, sondern einen verletzten und suchenden», sagt sie. Und im Verlaufe des Gesprächs wird sie hinzufügen: Erst das Verletzliche mache diesen Hirsch vollkommen.
Berge, einmal anders
Aber Deplazes stellt nicht nur das sonst so perfekte Antlitz dieses Tieres infrage, sondern er stellt auch die Berglandschaft anders dar als gewohnt. Sind die Berge bei Ferdinand Hodler oder Giovanni Segantini, an die er sich durchaus anzulehnen gedenkt, mitunter schroffer und mächtiger, sind sie bei ihm vielleicht eher Höhen und scheinen überwindbarer. Und apropos bemerkenswerter Umgang mit diesem Bild: Eigentlich ist es das, was Monika Fässler besonders fasziniert: «Wenn ich das Bild in natura sehe, ist für mich die Natur schon eher im Vordergrund.» Und dann: «Es lädt dazu ein, die Weite zu betreten und eigene Spuren zu setzen. Das Licht finde ich fantastisch.»
Wie könnte es eingedenk solcher Sätze denn anders sein – Bühne frei für Monika Fässler.
«Als Sinnbild für die heutige Zeit hat Andriu Deplazes die Empfindlichkeiten unserer Zeit mit diesem Bild sehr gut getroffen. Kunst soll Fragen stellen, das Gewohnte hinterfragen und manchmal auch aufrütteln. Das tut dieses Bild des jungen Malers.
In Berglandschaften wird oftmals das Mächtige betont. Auf diesem Bild werden wir überrascht von der Weite (und nicht der Höhe) der Landschaft. Die Weite der Landschaft lädt den Hirsch dazu ein, diese zu durchwandern und seine Wunden zu heilen. Der Hirsch ist ein stolzes Tier. Viele Mythen, Sagen und Legenden ranken sich um ihn. Die Verletzlichkeit des Tieres zeigt eine andere Seite, denn der Hirsch leidet offensichtlich. Ein Widerspruch oder doch eher ein Abbild der Realität?
Die Weite und das Geheimnisvolle dieser Landschaft spricht mich an. Können Berge auch so weitläufig wie eine (Nebel-)Meerlandschaft sein? In der Berglandschaft sehe ich auch eine Stimmung, wie man sie im Morgen- oder Abendrot erleben kann. Geschichten müssen erst noch erzählt werden. Ich gehe davon aus, dass der Hirsch seinen Weg schon finden wird in voller Kenntnis seiner Verletzlichkeit.
All das eröffnet ganz neue Perspektiven und stellt das Gewohnte infrage. Das Bild hat seit seinem Kauf durch die Zürcher Kantonalbank im März 2020 durch die Pandemie noch mehr an Bedeutung gewonnen. Wir sind uns unserer Verletzlichkeiten stärker bewusst – und die Planbarkeit ist auch schwieriger geworden.
Oftmals erkennt die Kunst neue Strömungen in der Zeit als Erste beziehungsweise bringt diese Themen auf das Tapet. Das finde ich sehr wichtig. Das kann dazu beitragen, dass wir diese neuen Perspektiven und Einflüsse aufnehmen und uns mit diesen auseinandersetzen. Dieses Bild lädt dazu ein, sich auf Neues einzulassen. Und eben auch: zu Gesprächen. Wie diesem hier zwischen uns.»
Kreativwirtschaft im Kanton unterstützen
Die Zürcher Kantonalbank fördert im Sinne des Leistungsauftrages die Kreativwirtschaft im Kanton und sammelt seit bald zwanzig Jahren Zürcher Gegenwartskunst. Über 1'000 Werke, die diesem Konzept entsprechen, nennt unsere Bank ihr Eigen. Die Entscheidung, ob und welche neuen Werke angekauft werden, trifft die Fachstelle Kunst unter Einbeziehung der Kunstkommission nach sorgfältiger Abwägung.