Explodierende Strompreise – Fluch oder Segen?

Die Strompreise in Europa sind so hoch wie noch nie. Eine aktuelle Branchenstudie der Zürcher Kantonalbank beleuchtet die Situation und Herausforderungen von Schweizer Versorger.

Text: Melanie Gerteis / Bild: Flavio Pinton

Armin Rechberger ist zuständiger Analyst bei der Zürcher Kantonalbank für den Versorgungssektor.

Das Bond-Research der Zürcher Kantonalbank analysiert bereits seit Langem die Schweizer Versorger. Die insgesamt 23 am CHF-Kapitalmarkt präsenten Versorger spielen mit einem aktuell ausstehenden Anleihevolumen von CHF 12.7 Milliarden beziehungsweise rund 3 Prozent des CHF-Inlandmarktes zwar eine eher bescheidene Rolle. Wegen der aktuell explodierenden Strompreise erhält diese relativ kleine Schuldnergruppe zurzeit jedoch trotzdem höchste Aufmerksamkeit.

Nach einer langjährigen Tiefpreisphase erlebt die Branche derzeit einen enormen Anstieg der Strompreise. Seit Herbst 2021 sind diese von rund 50 auf 250 EUR/MW angestiegen.

«Für die Branche ist dies generell positiv und stellt für Schweizer Stromproduzenten ein sehr gutes Marktumfeld dar», sagt Armin Rechberger, zuständiger Analyst bei der Zürcher Kantonalbank für den Versorgungssektor. «Insbesondere für die grossen Stromproduzenten mit Überhang an eigener Stromproduktion wie Alpiq, Axpo, BKW oder Repower profitieren von dieser Situation. Diese Unternehmen sind im Stromhandel sehr aktiv.»

Die Schattenseite der hohen Strompreise


Dass hohe Strompreise für Schweizer Stromversorger jedoch nur Segen sind, wäre zu kurz gedacht. Sie können gleichfalls zu erheblichen Problemen führen. Als die Strompreise Ende 2021 innert kürzester Zeit auf das Siebenfache anstiegen, mussten Stromhändler sehr rasch hohe Barsicherheiten nachschiessen. Die Folge: Liquiditätsengpässe bei einigen von ihnen.

«Höhere Barsicherheiten, sogenannte Margin-Calls, sind letztlich Ausdruck eines gestiegenen Gegenparteirisikos», sagt Rechberger. Könne ein Produzent wegen eines Kraftwerksausfalls den wie üblich im Voraus verkauften Strom nicht liefern, müsse er teuren Ersatzstrom auf dem Spotmarkt beschaffen beziehungsweise die Gegenpartei erhielte die Barsicherheiten.

«Es geht schnell um mehrere Hundert Millionen Franken, die innert Tagesfrist als Barsicherheiten aufzubringen sind», sagt der Analyst. Dass jene Liquiditätsprobleme nicht Ausdruck eines spekulativen Verhaltens der Stromproduzenten oder einer generell kritischen finanziellen Lage seien, stellt Rechberger in diesem Kontext klar.

Auch Lieferschwierigkeiten eines Stromproduzenten können Marktteilnehmer in Bedrängnis bringen und einen Dominoeffekt auslösen. Derzeit wird aus diesen Gründen in der Schweiz über einen Rettungsschirm in Form einer obligatorischen staatlichen Versicherung diskutiert. «So möchte der Bundesrat die Versorgungssicherheit gewährleisten», fasst der Obligationenanalyst zusammen.

Überhaupt steht die Schweizer Strombranche vor vielen Herausforderungen: erhöhte Anforderungen beim Umwelt- und Naturschutz, Implementierung der Energiestrategie 2050, das fehlende Stromabkommen mit der EU, hohe Wasserzinsen, regulatorische Eingriffe, die vollständige Liberalisierung des Marktes sowie Unsicherheiten in Bezug auf die Kosten für den Rückbau der Kernkraftwerke und die Endlagerung der radioaktiven Abfälle. Ab 2030 laufen zudem bei vielen Wasserkraftwerken die Konzessionen ab.

Droht der Schweiz eine Winterlücke?


Die drohende Stromknappheit – sie ist längst ein vielbesprochenes Thema. Doch muss sich die Schweiz wirklich auf eine Winterlücke einstellen? «Es wird kritisch», sagt Rechberger. Die Gefahr von Stromausfällen in der Schweiz steige mit der geplanten Stilllegung sämtlicher deutscher Kernkraftwerke Ende 2022 markant. Erschwerend komme hinzu, dass einige der Kernkraftwerke in Frankreich – die zurzeit ausser Betrieb sind – nicht wieder ans Netz angeschlossen werden können. Und auch die Verfügbarkeit von Erdgas spiele eine wesentliche Rolle. «Eng werden könnte es ebenfalls ab 2025, wenn die Importkapazitäten durch das fehlende Stromabkommen mit der EU stark beschnitten werden.»

Der Hintergrund ist: Im Sommerhalbjahr exportiert die Schweiz Strom in die Nachbarländer, doch von Oktober bis März ist sie regelmässig auf Stromimporte aus dem Ausland angewiesen. In den vergangenen Jahren verschob sich die Stromnachfrage immer mehr in die Wintermonate. Konkret: Im Winter 1960/1961 betrug der Anteil am Jahresverbrauch 49.5 Prozent; 2018/2019 waren es schon 54.7 Prozent. Erschwerend kommt hinzu, dass im Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre im Winterhalbjahr nur etwa 42 Prozent der Jahresproduktion aus Wasserkraft zur Verfügung gestanden haben.

Da der Stromverbrauch in Europa kontinuierlich steigt und sowohl Frankreich als auch Deutschland – die für die Schweiz bedeutendsten Stromimporteure im Winter – selbst bald häufiger auf Importe angewiesen sein werden, könnten den Schweizerinnen und Schweizern daheim ungemütlichere Winter bevorstehen. Lösungen sind insofern schnellstens gefragt.

Research-Branchenstudie «Schweizer Stromversorger»

Die aktuelle Branchenstudie der Zürcher Kantonalbank befasst sich mit dem Marktumfeld der Schweizer Versorger, mit Schwerpunkt Stromversorger und deren Bonität. Diese verschlechterte sich aufgrund der jahrelang sehr niedrigen Strompreise stetig. Angesichts der sich abzeichnenden Erholung wurde im Frühjahr 2021 der Outlook für einige Versorger auf positiv erhöht. Da sich bis anhin jedoch vor allem die negativen Effekte der hohen Strompreise bemerkbar machten, wurde einzig ein Rating angehoben.

Die Zürcher Kantonalbank ist hierzulande die grösste Anbieterin von Sell-Side-Research von Aktien-, Obligationen- und Immobilienfonds. Die Bank deckt schweizweit über 180 Aktiengesellschaften und indirekte Immobiliengefässe sowie 181 Bond-Emittenten ab. Dank dieser breiten Abdeckung und dem engen Kontakt zu Unternehmen verfügt das Research-Team über fundierte Kenntnisse des Schweizer Marktes.

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