Die Füreinander-Bestimmten

Das Leben ist voller Entscheidungen, und mit jeder Entscheidung bleibt eine Möglichkeit ungelebt. Autor Lukas Maisel über unsere ungelebten Leben und die Frage, ob es sich lohnt, ihnen nachzutrauern.

Text: Lukas Maisel / Illustration: Franz Lang | aus dem Magazin «ZH» 2/2023

Illustration zur Kurzgeschichte von Lukas Maisel

SIE und ER sind füreinander bestimmt.

Nur wissen sie das nicht: Sie haben es geschafft, sich bisher niemals zu begegnen. Zwar ist die Liebe eine Naturkonstante, die wie die Schwerkraft durch das gesamte Universum wirkt und alle Füreinander-Bestimmten zueinander zieht – den letzten Schritt aber müssen sie schon selbst gehen. SIE und ER wohnen in derselben Stadt, in Thalwil, nur zwei Strassen voneinander entfernt. Jeden Arbeitstag nehmen sie das gleiche Schiff an die Goldküste, sie nach Erlenbach, er nach Küsnacht (wirklich wahr) – wenn auch eine halbe Stunde auseinander.

An diesem Morgen soll es endlich so weit sein: Sie sollen sich als Füreinander-Bestimmte erkennen.

Vielversprechend fängt es an: Er verschläft sein Schiff (er verschläft niemals), hastet jetzt auf jenes, auf dem sie am Buffet für Kaffee und Croissant ansteht. Gleich wird er sich hinter sie stellen, die Letzte in der Reihe, und sie werden ihre gemeinsame Leidenschaft für schwarzen Kaffee entdecken. Diese Leidenschaft wird zu weiteren Leidenschaften führen.

Aber was ist das?

Warum bleibt er vor dem Anlegesteg stehen?

Der Schnürsenkelknoten seines rechten Turnschuhs hat sich gelöst, er geht in die Knie, um ihn zu binden. Als er sich endlich einreiht, hat sie sich mit ihrem dampfenden Becher schon auf eine Bank am Bug gesetzt (neben Kaffee braucht sie auch Wind im Gesicht, um wach zu werden). Schuld an ihrem Verpassen trägt die Schnürsenkelfabrik, die keine wertigen Fasern verarbeitet hat, und auch der historische Zufall, der Schnürsenkeln den Vorzug gab vor Klettverschlüssen, muss zur Rechenschaft gezogen werden.

Wie knapp!

Lange kann es nicht mehr dauern, bis die Füreinander-Bestimmten sich begegnen.
Schon bietet sich die nächste Gelegenheit. Beide besuchen am Freitagabend nicht nur denselben Film in demselben Kino, sie irrt sich auch noch in der Sitzreihe und wartet unwissend auf SEINEM Platz. Er, begleitet von einem Freund, bleibt auf Höhe ihrer Sitzreihe stehen, blickt zwischen Ticket und Sitzreihe hin und her. Weil es mehr als genug freie Sitze hat, wäre es da nicht kleinlich, diese Frau aus ihrem versunkenen Popcorngenuss zu reissen? Ungeschriebene Gesetze lassen ihn zwei Reihen hinter ihr Platz nehmen, Gesetze, in der Kindheit verinnerlicht und drei Jahrzehnte lang fleissig eingeübt, die Aufdringlichkeit Fremden gegenüber (oder was dafür gehalten werden könnte) unter allen Umständen verbieten.

Illustration zur Kurzgeschichte von Lukas Maisel

Zu den Schnürsenkelfabrikanten gesellen sich als Schuldige – ja wer eigentlich? Seine Eltern, welche die gesellschaftlichen Verhaltensweisen unhinterfragt an ihren Nachwuchs weitergaben? Belassen wir es dabei. Statt einen Schuldigen zu finden, sollten wir zu schwerwiegenderen Mitteln greifen. Denkbar wäre ein Schiffsleck, das sie einander in die Arme treibt – sinkende Schiffe haben sich als Garant für romantische Szenen bewährt.

Aber das ist doch nicht nötig.

Sie werden zum selben Gartenfest eingeladen, und am Buffet greifen SEINE und IHRE Hände gleichzeitig nach dem Schöpflöffel des Kartoffelsalats: In dieser Berührung laufen ihre Leben zusammen. Endlich schauen sie sich in die Augen. Sie weiss sofort, noch bevor ein Wort gesprochen wurde, dass es sich um den Für-sie-Bestimmten handelt.

Und ER, erkennt er SIE ebenfalls?

Nichts deutet darauf hin. Nach kurzem Geplauder stellt er sich in seinen Freundeskreis, sie beobachtet ihn vom Liegestuhl aus. Soll sie sich dazustellen? Niemand aus der Gruppe ist ihr bekannt, und ob Small Talk über dem Kartoffelsalat dazu ermächtigt, unbeschwert dazustossen zu dürfen, weiss sie nicht.

Was sie auch nicht weiss: Dass er auch sie erkannt hat. Ein Tiefenbeben hat ihn erschüttert, er musste vor ihr flüchten, um sich zu ordnen. In seinem Kopf rennen die Gedanken und stolpern übereinander. Sich umzudrehen, wagt er nicht, er fürchtet ihren Blick genau wie die Möglichkeit, sie könnte sich angeregt mit einem Mann unterhalten. Morgen aber wird er es bereuen, die Gefundene verloren zu haben. Wortlos geht er zu ihr hin, reicht ihr sein Smartphone, und sie versteht und speichert ihre Nummer ein. In einem Hochgefühl geht er nach Hause. Soll er ihr schon schreiben? Nein, er will bis zum nächsten Morgen warten, um nicht bedürftig zu wirken.

Die Nummer, die sie eingetippt hat, ist nicht vergeben.

Hat sie sich vertippt?

Oder wollte sie ihn abwimmeln?

Weil er nicht wie ein Besessener wirken will, gibt er auf. Wenn sie wirklich füreinander bestimmt sind, dann werden sie sich wieder treffen. Als sie sich tatsächlich wiedersehen, auf dem Schiff, wendet sie sofort den Blick ab – ein eindeutiges Zeichen, dass sie nichts von ihm möchte. Eine Fehleinschätzung: Sie ist enttäuscht, weil er sich nicht gemeldet hat – fühlte er nicht dieselbe Verbundenheit?

Er zwingt sich, zu vergessen, zieht nach Zürich, verlobt sich, wird Vater von Zwillingen. Sie bleibt in Thalwil, denkt noch lange an den Unbekannten, gibt sich der Möglichkeitsform hin. Schliesslich reisst sie das Luftschloss ab, heiratet einen Zuverlässigen, aber Leidenschaftslosen, sie bleiben kinderlos.

SIE und ER leben gute Leben.

Manchmal aber fühlen sie beide, dass ihr Leben anders hätte verlaufen können. Manchmal streifen sie ihr ungelebtes Leben unwissentlich, und fragen sich, warum ein kleiner Schauer Glückseligkeit sie überläuft.

Serie «Frei erfunden»

Der Kanton Zürich bietet Inspiration zu vielen Geschichten – zu wahren und zu erfundenen. 

In der Serie «Frei erfunden» bieten wir Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit einem Bezug zu Zürich eine Plattform. Sie schreiben für uns eine Kurzgeschichte, die mit passenden Illustrationen inszeniert wird.

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