Tante Suzette singt schrill

Rund um Weihnachten können die Nerven blank liegen. Wenn dann noch die Verwandtschaft die Töne nicht trifft, kann es schon mal jucken in den Fingern. Das ist halt «déformation professionnelle».

Text: Sunil Mann / Illustration: Grafilu | aus dem Magazin «ZH» 3/2024

Illustration Kurzgeschichte Sunil Mann

Dieser Stress vor Weihnachten! Kennen Sie sicher auch. Das Telefon klingelt ununterbrochen, stets sind irgendwelche Kundinnen und Kunden dran, die in letzter Minute noch etwas erledigt haben wollen. Natürlich eilt es, es eilt immer kurz vor Jahresende. Ich höre es ihren Stimmen an, wenn sie angespannt und meist etwas unschlüssig herumdrucksen, bis sie endlich zum Kern ihres Anliegens vorstossen.

«Gerne vor den Feiertagen», sagen sie dann oft. «Je eher, desto besser.»

Als wäre der Dezember das Ende der Zeitrechnung. Dabei hätten sie das ganze Jahr über Gelegenheit gehabt, mir ihren Auftrag zu übermitteln. Aber nein, sie melden sich auf den letzten Drücker, wie wenn sie erst am Vorabend auf die Idee gekommen wären. Mit einem Mal soll ihr Problem möglichst sofort aus der Welt geschafft werden.

Nur wenige bestehen darauf, dass ich bestimmte Methoden anwende. Das sind allerdings die mühsamsten. Ich mache meinen Job seit zwei Jahrzehnten mit einer beinahe hundertprozentigen Erfolgsquote; ich brauche keinen, der mir sagt, wie ich meine Arbeit zu erledigen habe. Manche haben jedoch sehr genaue Vorstellungen davon, wie ihr Auftrag auszuführen ist. Wenn es nicht komplett absurde Ideen sind, gehe ich selbstverständlich darauf ein. Der Kunde ist König. Eine zufriedene Klientel ist die beste Werbung, muss ich Ihnen nicht erzählen. Es liegt auf der Hand, dass Anzeigen in Tageszeitungen und Onlineportalen nicht infrage kommen. Ich habe auch keine Website, auf der man Kundenrezensionen nach­lesen und mich kontaktieren kann. Ich bin auf Mund-zu-Mund-Propaganda angewiesen.

Das funktioniert ganz gut, ich kann nicht klagen. Wir können uns ein Haus in Thalwil leisten. Schöner Garten, ein Pool, zwei SUVs, Marco und Selina besuchen mittlerweile das Gymnasium. Mit den Nachbarn sind wir locker befreundet. Gemeinsame Grillabende, einmal im Jahr ein Quartierfest, dekorierte Fenster in der Adventszeit. Wenn jemand meine Frau fragt, in welchem Bereich ich tätig bin, antwortet Antonella: «Im Transportwesen.» Dann nicken sie beeindruckt, das luxuriöse Haus mit den riesigen Fensterfronten Richtung See erübrigt tieferschürfende Fragen.

Illustration Kurzgeschichte Sunil Mann

Der für mich zuständige Steuerbeamte ist weniger leicht zu überzeugen. Zwar hat Stefan dauernd mit selbstständigen Unternehmern zu tun. Doch meine Aufträge sind so ausserordentlich gut bezahlt, dass ich ziemlich tricksen muss, damit er nicht misstrauisch wird. Ununterbrochen fingiere ich Belege, Quittungen, erstelle Rechnungen, die ich nie verschickt habe. Erklären Sie mal einem Staatsangestellten, wie ihr Einkommen als freischaffender Auftragskiller zustande kommt. «Transportwesen», wer’s glaubt. Wobei – völlig falsch ist die Bezeichnung ja nicht. Transport ist tatsächlich mein Metier. Ich transportiere Leute von hier nach dort, vom Diesseits ins Jenseits. Auf einer Steuererklärung sieht das aber einfach nicht vertrauenswürdig aus.

Und jetzt stehe ich hier in der Metzgerei in Thalwil und soll das dünn geschnittene Fleisch fürs Fondue chinoise abholen, das Antonella vorbestellt hat. Unser traditionelles Weihnachts­essen. «Geh schnell in die Metzgerei, bevor du Tante Suzette am Bahnhof abholst», hat sie mich beauftragt. Wie jedes Jahr hat Antonella beinahe die gesamte Verwandtschaft eingeladen, Tante Suzette ist die Einzige, die mit dem Zug anreist.

«Schnell» liegt leider nicht drin, die Leute stehen Schlange bis aufs Trottoir. Ein älteres Ehepaar wird gerade bedient, offensichtlich sind die beiden nicht in Eile. Besehen sich das Rindsfilet, das Kalbsrack, probieren vom Schwarzwaldschinken, beratschlagen, überlegen, stellen weitere Fragen, erzählen der Verkäuferin ausführlich vom Menü, das sie am Abend zubereiten wollen. Diskutieren mit ihr die Vor- und Nachteile des Niedergarens. Die Kunden hinter ihnen beginnen, mit den Füssen zu scharren, oder verschränken vorwurfsvoll die Arme. Auch ich werde ungeduldig, bin zunehmend gereizt, es juckt in meinen Fingern. Déformation professionnelle. Doch ich beherrsche mich. Die strikte Trennung von Beruf und Privatleben ist unabdingbar, gerade in meinem Bereich. Es gibt natürlich Ausnahmen. Grundsätzlich habe ich mich aber auf High-End-Kundschaft spezialisiert. Keine Schwiegermütter, keine untreuen Ehemänner, keine nervigen Nachbarn. Das sollen die Leute selbst erledigen, man kann wirklich nicht alles delegieren.

Endlich bin ich dran, ich nehme meine Bestellung entgegen, rase zum Bahnhof und stehe genau in dem Moment auf dem Perron, in dem Tante Suzettes Zug einfährt.

Am Abend, nach dem vorzüglichen Fondue chinoise mit Antonellas selbstgemachten Sossen, besteht Suzette wie jedes Jahr darauf, ein paar Arien zu singen. Als ehemalige Chorsängerin an der Oper lässt sie sich nicht davon abhalten. Schicksalsergeben setzt sich Marco an den Flügel und begleitet sie mit stoischer Miene. Sie beginnt mit «Casta Diva» aus der Oper «Norma». Suzettes Stimme wird mit jedem Jahr brüchiger und schmerzhaft schrill in den oberen Registern, ich sehe es in den Gesichtern zucken, wenn sie die Töne nicht trifft. Jemand seufzt gequält, ein Kind beginnt zu weinen. Ich spüre, wie mich Antonella von der Seite anschaut, und als ich den Kopf zu ihr hindrehe, nickt sie mir zu. Unauffällig zwar, aber sehr nachdrücklich.

Zum Autor

Porträt Schriftsteller Sunil Mann
(Bild: Eke Miedaner)

Sunil Mann (52) ist in Zweisimmen als Sohn indischer Einwanderer geboren. Seine Jugend verbrachte er bei Pflegeeltern in Spiez, heute lebt er in Zürich. Er studierte Psychologie und Germanistik und absolvierte eine Gastronomie-Ausbildung. Sunil Mann schrieb zahlreiche Kriminalromane und Kurzgeschichten und erhielt mehrere literarische Auszeichnungen.

Website von Sunil Mann

Serie «Frei erfunden»

Der Kanton Zürich bietet Inspiration zu vielen Geschichten – zu wahren und zu erfundenen. 

In der Serie «Frei erfunden» bieten wir Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit einem Bezug zu Zürich eine Plattform. Sie schreiben für uns eine Kurzgeschichte, die mit passenden Illustrationen inszeniert wird.

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