Zum Beispiel Urdorf

Der Sportplatz als Epizentrum der jugendlichen Langeweile, die Beiz als Ort der Erkenntnis und eine Beerdigung, die Täter entlarvt – Betrachtungen über Identifikation und Anonymität auf dem Dorf.

Text: Eva Rottmann / Bild Eva Rottmann: Sabina Bösch / Illustration: Andreas Gefe | aus dem Magazin «ZH» 2/2024

Illustration Kurzgeschichte Eva Rottmann

Ich bin in einem sehr kleinen Dorf aufgewachsen. Es gab dort etwa 300 Leute, drei Bauernhöfe, einen Sportplatz, eine Kirche und ein Gasthaus, das in meiner Erinnerung öfter geschlossen als geöffnet war. Wenn wir als Kinder Eis haben wollten, gingen wir zur Hintertür und klingelten so lange Sturm, bis die Wirtin öffnete und uns zur Eistruhe im Schankraum führte. An Sonntagen, wenn das Gasthaus geöffnet hatte, benutzten wir die Vordertüre, und hatten wir Geld gespart, dann kauften wir uns statt Eis eine Portion Pommes. Es war eine glückliche Zeit. Im Sommer hatten wir den Fluss, im Winter den Rodelhang. Wir hatten den Wald zum Hüttenbauen, die Strassen zum Rollschuhfahren, die Gärten und die Hinterhöfe für Bandenkriege. Die Leute waren freundlich und die Tage meistens zu kurz.

Aber als wir älter wurden, verwandelte sich die grosse Freiheit, in der unsere Kinderjahre geblüht hatten, in einen luftleeren Raum, den wir nicht mehr so recht zu füllen wussten. Der Sportplatz wurde zum Epizentrum unserer Langeweile. Dort trafen wir uns und vertrödelten die Zeit. Manchmal klauten wir Bier aus den Kellern unserer Eltern und investierten unser Taschengeld in Zigaretten statt in Eis oder Pommes frites. Und manche von uns, mich eingeschlossen, fingen an, von der Grossstadt zu träumen, von langen Nächten und vollen Strassen und Anonymität.

Jetzt, Jahre später, wohne ich zwar in keiner Grossstadt, aber doch immerhin in Zürich. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, auf dem Land zu leben. Und trotzdem gibt es Tage, an denen mir die Stadt zu viel, zu laut, zu voll ist. Dann kommt es vor, dass ich in die S-Bahn steige und rausfahre. Irgendwohin. Zum Beispiel nach Urdorf. Dort war ich neulich. Kennen Sie Urdorf? Ein Ort, der irgendwo zwischen Dorf und Stadt steckengeblieben ist, 10’000 Einwohner und zwei Bahnhöfe, aber verlässt man die S-Bahn, wird man von Kuhglockengebimmel empfangen. Ich habe mich direkt zu Hause gefühlt. Neben dem Kiosk sass die Verkäuferin und rauchte. Die Luft war mild, und ich beschloss, einen Spaziergang zu machen.

Ich überquerte die Eisenbahnschienen und lief hinunter in das Dorf. Aus einem Haus, in dessen Garten ein schmutziges und schon seit Jahren nicht mehr benutztes Kinderbällebad stand, pumpte laute Technomusik. Ein Selbstbedienungs-Sonnenstudio lud an 365 Tagen im Jahr zum Bräunen ein. Auf dem Sportplatz neben dem Einkaufszentrum spielten ein paar Jugendliche Fussball, andere sassen auf den Bänken am Rand und guckten auf ihre Handys. Ich fühlte mich an meine eigene Jugend erinnert und dachte, dass Teenager, egal wo sie leben, wahrscheinlich immer den Sportplatz zu ihrem Treffpunkt erklären. Die Sportplätze dieser Welt sind die Heimat der Jugend.

Ich ging in das Restaurant Steinerhof, um eine Pause zu machen. Auf der Speisekarte standen 13 verschiedene Cordon-bleu-Variationen, inklusive XXL-Cordon-bleu für 56.50 Franken. Ich bestellte einen Kaffee. Es war ein Dienstagnachmittag, ausser mir sass nur eine ältere Dame im Restaurant. Sie trank Bier und sah immer wieder zu mir hinüber. Nach einer Weile stand sie auf und kam an meinen Tisch. Ob ich von dem Grosseinsatz der Polizei im Urdorfer Postverteilzentrum gehört habe, fragte sie mich. In einem Paket sei eine gefährliche Substanz gefunden worden. Ja, sagte ich, mehr um die Dame wieder loszuwerden, ich hätte davon gelesen. Die Frau stellte ihr Bierglas auf den Tisch und setzte sich neben mich. Es sei ja nicht das erste Mal, dass polizeiliche Ermittlungen in der Urdorfer Post stattfänden, sagte sie. Im Herbst 1947 hätte sich ein besonders tragischer Kriminalfall dort ereignet. Ob ich davon auch gelesen hätte?

Als ich verneinte, rückte sie ein Stück näher zu mir und senkte ihre Stimme. Es sei eine äusserst tragische Geschichte gewesen, sagte sie. Der Postbeamte, ein 37-jähriger Familienvater, sei nach Schalterschluss von einem guten Freund mit einem Hammer erschlagen worden. Wobei, sagte die Frau und lachte bitter, so ein guter Freund sei er dann wohl doch nicht gewesen. Kurz nach dem Mord sei der neunjährige Sohn des Opfers in die Poststelle gekommen und ebenfalls mit dem Hammer erschlagen worden. 5’700 Franken hätte der Täter erbeutet und sei zunächst entkommen. Aber, sagte die Frau und trank einen Schluck von ihrem Bier, als ein paar Tage später die Beerdigung des Postbeamten stattfand und sein guter Freund (sie hob die Finger in die Luft, um die beiden Worte in Anführungszeichen zu setzen) nicht gekommen sei, da hätten die Leute Verdacht geschöpft. So etwas würde auffallen in einem Dorf, sagte die Dame und lehnte sich triumphierend in ihrem Stuhl zurück, da kenne man sich eben. Ich nickte und winkte der Bedienung, um meinen Kaffee zu bezahlen.

Als ich zurück nach Zürich fuhr, dachte ich darüber nach, wie absurd das ist. Dass einer verhaftet wird, weil er nicht an einer Beerdigung erscheint. Vielleicht, überlegte ich, kann so etwas tatsächlich nur auf dem Dorf passieren. Weil die Leute einander viel genauer wahrnehmen. Weil die Rollen, ob man das mag oder nicht, verteilt sind und es wahrscheinlich niemals unkommentiert bleibt, wenn einer damit bricht. Ich stieg am Hauptbahnhof aus dem Zug, die Menschen liefen an mir vorbei und niemand kannte mich. Ich fand es schade und tröstlich zugleich.

Zur Autorin

Eva Rottmann, Autorin

Eva Rottmann (41) ist in Wertheim (D) aufgewachsen, hat in Bonn Philosophie studiert und in Zürich Theaterpädagogik. Ihre Stücke werden an zahlreichen deutschen Theatern gespielt. Ihr drittes Buch «Kurz vor dem Rand» (2023, Jacoby & Stuart) ist für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2024 nominiert. Eva Rottmann hat zwei Kinder und lebt in Zürich.

Website von Eva Rottmann

Serie «Frei erfunden»

Der Kanton Zürich bietet Inspiration zu vielen Geschichten – zu wahren und zu erfundenen. 

In der Serie «Frei erfunden» bieten wir Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit einem Bezug zu Zürich eine Plattform. Sie schreiben für uns eine Kurzgeschichte, die mit passenden Illustrationen inszeniert wird.

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