«Durch eine veränderte Rollen­erwartung profitieren alle»

Kind und Karriere unter einen Hut zu bringen, fordert. Leichter gelingt es, wenn Eltern sich Erwerbs- und Familienarbeit ausgewogen teilen. In Zeiten des Fachkräftemangels profitiert davon auch die Wirtschaft. Inwiefern, erklärt Alkistis Petropaki, General Manager von Advance.

Interview: Simona Stalder / Bilder: Cyrill Matter | aus dem Magazin «ZH» 2/2024

Alkistis Petropaki, General Manager Advance
Alkistis Petropaki, General Manager Advance

Alkistis Petropaki, sind Kinder in der Schweiz ein Karrierekiller?

Leider ist die Antwort häufig «Ja», auch wenn es traurig ist. Zahlen zeigen, dass die Karrieren von Männern insbesondere im Alter zwischen 31 und 40 Fahrt aufnehmen, während Frauen beruflich stecken bleiben. In diese Lebensphase fallen die meisten Beförderungen, oftmals jedoch auch die Familiengründung.

Wie wirkt sich eine Mutterschaft konkret auf die Karriere von Frauen aus?

Zunächst führt die Geburt eines Kinds bei Frauen zu einem Unterbruch der Erwerbstätigkeit. Danach kehren viele in einem Teilzeitpensum zurück. Einige Frauen entscheiden sich, ganz aus dem Berufsleben auszusteigen, zumindest für ein paar Jahre. Alles in allem kommt es zu einem Knick im Karriereverlauf, das berufliche Fortkommen verlangsamt sich. Betroffen sind davon auch lesbische Paare. Gemäss einer schwedischen Studie sind sie aber häufig paritätischer aufgestellt, weshalb es ihnen besser gelingt, ihr Einkommen nach einigen Jahren wiederzuerlangen.

Weshalb wirkt sich eine Familiengründung so stark auf die Laufbahn von Frauen aus?

Weil man sich in der Schweiz noch stark an klassischen Rollenbildern orientiert und die unbezahlte Arbeit zu Hause mehrheitlich von Frauen übernommen wird. Ein entscheidender Punkt für die Karriereentwicklung ist nämlich das Arbeitspensum: Der Gender Intelligence Report hat ergeben, dass lediglich vier Prozent aller Beförderungen an Personen gehen, die weniger als 80 Prozent arbeiten. Gleichzeitig hat die Schweiz weltweit betrachtet den grössten Teilzeitgraben. Nirgendwo sonst arbeiten so viele Frauen in Teilzeit im Vergleich zu Vollzeit arbeitenden Männern.

Alkistis Petropaki

Alkistis Petropaki (57) ist General Manager von Advance, einem Zusammenschluss von rund 150 Schweizer Unternehmen mit dem Ziel, Frauen und Männer in der Arbeitswelt gleichzustellen und den Anteil von Frauen in Führungsfunktionen zu erhöhen. Petropaki studierte Wirtschaft an der École supérieure de commerce de Paris (ESCP) sowie Germanistik und Psychologie an der Universität von Athen. Sie war in führenden Positionen unter anderem für L’Oréal, Nestlé, Mövenpick, Lindt & Sprüngli sowie Yves Rocher tätig.

Aufgrund der hohen Betreuungskosten lohnt es sich für viele Familien schlicht nicht, wenn beide Elternteile in hohen Pensen arbeiten.

Das ist ein Trugschluss, denn auf lange Sicht lohnt es sich finanziell immer. Denken Sie etwa an die Pensionskassenbeiträge – auch jene der Arbeitgeberin –, die man auslässt, oder an die Lohnentwicklung, die einem während der beruflichen Auszeit entgeht.

Advance will für die finanziellen Folgen eines familienbedingten Karriereknicks sensibilisieren. Was müssen Eltern wissen?

Nach dem Wechsel in ein Teilzeitpensum, insbesondere in ein Pensum unter 80 Prozent, ist der Lohn merklich tiefer. Mitarbeitende in tiefen Pensen werden seltener befördert und das Einkommen entwickelt sich langsamer. Dazu ein paar Zahlen: Das durchschnittliche Lebenseinkommen von Frauen liegt in der Schweiz 43 Prozent unter dem von Männern. Das wirkt sich auch auf die berufliche Vorsorge aus: Frankenmässig geht derzeit lediglich ein Viertel der ausbezahlten BVG-Altersrenten an Frauen. Ein familienbedingter Karriereknick kann deshalb zu finanzieller Abhängigkeit vom Partner oder der Partnerin oder – bei einer Scheidung – in eine prekäre finanzielle Situation führen. Um dies zu verhindern, sollte man über das gesamte Erwerbsleben betrachtet ein durchschnittliches Pensum von mindestens 70 Prozent erreichen.

Nur vier Prozent aller Beförderungen gehen an Personen, die weniger als 80  Prozent arbeiten.

Alkistis Petropaki, General Manager von Advance.

Was hält Eltern davon ab, Erwerbs- und Familienarbeit gleichmässiger aufzuteilen?

Die gesellschaftlichen Rollenerwartungen. Im Kern lauten diese: Der Vater ernährt die Familie, die Mutter umsorgt die Kinder. Diese Rollenerwartungen sind auch in institutionellen Rahmenbedingungen verankert, etwa im gesetzlichen Mutter- und Vaterschaftsurlaub. Sie tragen dazu bei, weiterhin die Frau als primäre Bezugsperson von Kindern zu etablieren. Dabei weiss man heute, wie wichtig die Rolle der Väter in der Kindererziehung ist. Sich dem sozialen Druck klassischer Rollenerwartungen zu entziehen, ist trotzdem sehr schwer.

Wie äussert sich dieser?

2022 hat Advance 600 hoch qualifizierte Frauen, viele davon in Führungspositionen, zu ihrer Situation befragt. Eine Erkenntnis war, dass sich 70 Prozent als erwerbstätige Mütter in der Schweiz stigmatisiert fühlen. Eine Teilnehmerin wurde beispielsweise gefragt, weshalb sie Kinder bekommen habe, wenn sie diese nicht selbst aufziehen wolle – unvorstellbar, dass man diese Frage einer männlichen Führungskraft stellen würde.

Sie machen darauf aufmerksam, dass auch Männer profitieren, wenn sich gesellschaftliche Rollenerwartungen verändern – inwiefern?

Vätern wird häufig die Verantwortung des ­Alleinernährers zugewiesen, die meisten arbeiten Vollzeit. Ich kenne jedoch viele Männer, die Teilzeit arbeiten möchten, um in ihren Familien präsenter zu sein. Vielen fällt es jedoch schwer, dies gegenüber ihrer Arbeitgeberin zu äussern, weil es sich ­negativ auf ihre Karriere auswirken kann. Manche Väter verzichten sogar auf den zweiwöchigen ­Vaterschaftsurlaub, der ihnen seit 2021 per Gesetz zusteht. Wenn wir es schaffen, diese Rollenerwartungen zu verändern, profitieren alle: Frauen, Männer, Kinder, die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes.

Alkistis Petropaki, General Manager Advance
«Alles, was zur Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen beiträgt, wirkt sich positiv aus»: Alkistis Petropaki.

Worin läge der volkswirtschaftliche Nutzen?

Eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen trüge dazu bei, das Wirtschaftswachstum zu beschleunigen sowie die Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen zu erhöhen. Würden Frauen in der Schweiz beispielsweise gleich viel arbeiten, wie es Frauen in Schweden tun, würde unser Bruttoinlandprodukt um sechs Prozent wachsen – das entspricht 33 Milliarden Franken. Unternehmen könnten angesichts des sich zuspitzenden Fachkräftemangels direkt profitieren, weil ihnen mehr Arbeitskräfte zur Verfügung stünden.

Von welchem Potenzial sprechen wir da?

Advance hat verschiedene Modelle analysiert. Gelänge es Unternehmen vermehrt, Frauen nach einer Geburt im Unternehmen zu halten, liessen sich 53’000 Vollzeitäquivalente gewinnen. Ein zweites Modell betrachtet die Aufteilung der Teilzeitarbeit zwischen den Geschlechtern: Wenn alle Männer und Frauen in einem Pensum von 85 Prozent arbeiteten, stünden der Schweizer Wirtschaft zusätzlich 87’000 Vollzeitäquivalente zur Verfügung. Ein drittes Modell betrachtet die Verteilung unbezahlter Arbeit: Frauen arbeiten pro Woche 11,2 Stunden mehr in unbezahlten Tätigkeiten als Männer. Würden Frauen die Hälfte dieser Zeit – also 5,6 Stunden pro Woche – zusätzlich zu ihrem bisherigen Pensum für ihre Erwerbstätigkeit einsetzen, stünden Unternehmen 230’000 zusätzliche Vollzeitäquivalente zur Verfügung.

Was können Unternehmen tun, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erhöhen?

Alles, was zur Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen beiträgt, wirkt sich positiv aus – ich denke da an Jahresarbeitszeit, mobiles Arbeiten und so weiter. Es braucht aber auch eine Flexibilisierung der Karriere im Allgemeinen: Für die Häufung von Beförderungen in der Altersgruppe der 31- bis 40-Jährigen gibt es keinen objektiven Grund. Es spricht nichts dagegen, jemanden beispielsweise Mitte vierzig zu befördern, wenn er oder sie die intensive Kleinkindphase hinter sich hat und sich wieder stärker der Karriere widmen möchte. Unternehmen können Mitarbeitenden zudem bei der Kinderbetreuung unter die Arme greifen, indem sie einen Teil der Betreuungskosten übernehmen oder eigene Angebote schaffen – es ist vieles möglich.

Eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen würde das Wirtschaftswachstum beschleunigen.

Alkistis Petropaki, General Manager von Advance.

Eine Ihrer Empfehlungen an Unternehmen lautet, Väter wie Elternteile zu behandeln und Mütter wie Karrierefrauen – was heisst das?

Nehmen wir das Thema Teilzeit: Sie sollte Männern genauso offenstehen. Umgekehrt sollten Unternehmen nicht automatisch davon ausgehen, dass Frauen das Interesse an ihrem beruflichen Fortkommen verlieren, sobald sie Mutter werden. Dieses Vorurteil führt noch immer dazu, dass ­junge Frauen für bestimmte Positionen oder Förderprogramme nicht berücksichtigt werden, weil sie dereinst Mutter werden könnten. Dieser sogenannte Maybe-Baby-Bias trifft auch Frauen, die keine Kinder haben wollen oder können.

Führungskräfte haben einen direkten Einfluss auf die Arbeitsbedingungen ihres Teams. Was können sie tun?

Sie können zum Beispiel bei der Sitzungskultur ansetzen: Wer Sitzungen um 8 Uhr morgens und 17 Uhr abends ansetzt, macht es Mitarbeitenden, die den Nachwuchs in einer Kita betreuen lassen, unnötig schwer. Vorgesetzte können zudem ihre Vorbildrolle als erwerbstätige Elternteile aktiv leben. Dazu gehört, dass sie mit einer gewissen Selbstverständlichkeit kommunizieren, wenn sie aufgrund eines Elterngesprächs oder der Betreuung eines kranken Kindes von der Arbeit wegmüssen. Für Mitarbeitende ist es entlastend, wenn sie merken, dass Verständnis für elterliche Pflichten besteht.

Richten wir den Blick auf die institutionellen Rahmenbedingungen. Schweden wird hier häufig als Vorreiter genannt – weshalb?

Die Kinderbetreuungsangebote sind in Schweden sehr gut ausgebaut und dabei erschwinglich. Die Elternzeit beträgt 96 Wochen und kann zu gleichen Teilen zwischen den Eltern aufgeteilt werden. Auch die in Schweden geltende Individualbesteuerung begünstigt die berufliche Gleichstellung. Alles in allem führt das dazu, dass die Schwedinnen und Schweden paritätischer aufgestellt sind und der Teilzeitgraben zwischen den Geschlechtern wesentlich kleiner ist.

Bleiben wir bei der Elternzeit: Welche Bedeutung kommt ihr zu?

Ich komme nochmals zurück auf die Befragung, die wir hierzulande bei 600 berufstätigen Frauen durchgeführt haben. Sie ergab, dass ­Mütter ihre Erwerbstätigkeit nach einer Geburt im Durchschnitt zwölf Monate ruhen lassen. Das Gesetz sieht eine bezahlte Absenz von vierzehn Wochen vor und bleibt damit deutlich unter den Bedürfnissen junger Familien. Für den Rest der Zeit nehmen Frauen oftmals unbezahlt frei. Sie verlieren – zumindest vorübergehend – die Bindung ans berufliche System. So viel zur Dauer. Nun zur Aufteilung: Wenn es selbstverständlich wird, dass sich beide Elternteile von Anfang an zu ungefähr gleichen Teilen um den Nachwuchs kümmern, ist es einfacher, beide als ebenbürtige Bezugspersonen des Kinds zu etablieren. Damit sind die Weichen gestellt, Familie und Karriere auch weiterhin gemeinsam auf Augenhöhe zu meistern.

Wo lässt sich bei der familienergänzenden Kinderbetreuung ansetzen?

Wir wissen, dass externe Kinderbetreuung eine grosse Bedeutung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat. Viele Betreuungsangebote sind von ihrer zeitlichen Verfügbarkeit her jedoch noch nicht optimal auf die Bedürfnisse erwerbs­tätiger Eltern abgestimmt. Hinzu kommen die ­hohen Kosten, die das Familienbudget belasten. Hier stellt sich die Frage, wer sich daran beteiligen soll und inwiefern der Staat oder die Kantone in die Pflicht genommen werden sollen. Ein gutes Beispiel liefert Zürich: Die Stadt führt bis 2030 flächendeckend Tagesschulen ein. Dem Volksentscheid voraus ging ein mehrjähriges Pilotprojekt. Dieses zeigte, dass rund 20 Prozent der Eltern ihr Haushaltserwerbspensum aufgrund der Tagesschule erhöht haben oder erhöhen wollen. Die durchschnittliche Erhöhung lag bei rund einem Arbeitstag pro Woche – das ist enorm.

Zum Abschluss: Sie waren in führenden Positionen für grosse Konzerne tätig und haben zwei erwachsene Kinder – welche persönlichen Erfahrungen haben Sie geprägt?

Die grösste Herausforderung war es, an meinen Überzeugungen festzuhalten. Verschiedene Studien beweisen nämlich inzwischen, dass erwerbstätige Mütter einen positiven Einfluss auf ihre Kinder haben, besonders auf Mädchen. Andere Studien zeigen, dass Kinder in ihrer Entwicklung davon profitieren, wenn beide Elternteile ausgewogen präsent sind. Heute würde ich also bewusster versuchen, weniger den Erwartungen anderer zu entsprechen und mehr das zu machen, was für mich stimmt.

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