Der eigene Wille zählt
Das revidierte Erbrecht erhöht den Gestaltungsspielraum bei der Aufteilung des Nachlasses. Bedingung dafür ist aber eine genaue Regelung zu Lebzeiten.
Text: Patrick Steinemann / Illustrationen: Tomas Fryscak | aus dem Magazin «ZH» 3/2021
Es ist mehr als 100 Jahre alt, stützt sich auf ein traditionelles Familienbild ab – und passt einfach nicht mehr in die heutige Zeit: das aktuell gültige Erbrecht der Schweiz von 1912. Nach dem Willen des Bundesrats soll das Erbrecht deshalb auf Anfang 2023 in einer revidierten Fassung in Kraft treten. Das Hauptziel: Die Lebenssituationen von Konkubinatspartnern, geschiedenen Eheleuten, Paaren mit Stiefkindern oder Patchworkfamilien besser abbilden. Das hauptsächliche Mittel dazu: Die gesetzlichen Mindest-Erbquoten – die sogenannten Pflichtteile – verkleinern.
Einfacher begünstigen
Das neue Erbrecht liegt damit im Trend: weniger starre Raster, mehr individueller Gestaltungsspielraum. Das kommt vor allem jenen Personen zugute, die ihr Vermögen nach eigenen Wünschen vererben wollen und dafür ein Testament oder einen Erbvertrag aufsetzen. Sie können künftig den Ehegatten oder die Lebenspartnerin besser begünstigen.
Doch wie sieht das konkret aus? Nehmen wir das Beispiel eines kinderlosen Konkubinatspaars. Es lebt in einem eigenen Haus, das den Grossteil des Vermögens ausmacht, hat aber keine Testamente gemacht. Stirbt der Partner, dem das Haus gehört, so geht heute das ganze Erbe an die überlebenden Eltern des Verstorbenen. Die Konkubinatspartnerin geht leer aus und muss im schlimmsten Fall aus dem Haus ausziehen – ein doppelter Verlust. Auch mit einem Testament sieht die Lage für den Hinterbliebenen nicht viel besser aus: Der gesetzliche Pflichtteil für die Eltern kann nach geltendem Recht nur auf die Hälfte reduziert werden – sie erben also immer mit. Mit dem revidierten Recht sieht alles ganz anders aus: Die kinderlosen Konkubinatspartner können einander testamentarisch ihr ganzes Vermögen vermachen, die überlebenden Eltern haben keinen Anspruch mehr auf einen Pflichtteil (siehe auch Grafik oben).
Das Testament aktuell halten
Das neue Erbrecht ändert auch bei einem Todesfall in einer Ehe mit Kindern die Erbanteile für die Hinterbliebenen – sofern der Verstorbene zu Lebzeiten mit Testament oder Ehevertrag vorgesorgt hat. So kann die frei verfügbare Erbquote neu auf die Hälfte des Erbes ausgedehnt werden, heute beträgt dieser Anteil nur ⅜ des Vermögens. Wer dies möchte, kann also bis zu 50 Prozent seines Vermögens an familienfremde Institutionen wie etwa ein Tierheim oder eine andere wohltätige Organisation vermachen. Die Erbanteile des Ehegatten und der Nachkommen sind nach neuem Recht noch je zu einem Viertel durch den Pflichtteil geschützt (siehe Grafik oben).
Diese Beispiele zeigen, dass es sich künftig noch mehr lohnt, das Thema Vererben nicht aufzuschieben, sondern aktiv anzugehen und nach eigenem Willen zu regeln. Ein Testament räumt für die Hinterbliebenen auch viele Fragen aus dem Weg und macht ihre Situation in einer ohnehin schwierigen Lage etwas einfacher. Weil sich das Leben und die persönlichen Beziehungen immer mal wieder ändern können, sollte auch der festgehaltene letzte Wille periodisch überprüft und wenn nötig angepasst werden – damit er immer in die aktuelle Zeit passt.