Biden verzichtet auf zweite Amtszeit
Der Druck auf US-Präsident Joe Biden, auf eine zweite Amtszeit zu verzichten, wurde in den letzten Wochen immer grösser. In den Umfragen haben sich die Chancen von Präsident Biden auf eine Wiederwahl kontinuierlich verschlechtert. Nun gab der 81-jährige Biden seinen Verzicht auf eine weitere Amtszeit bekannt. Welche neuen Kandidaten stehen bereit? Was spricht für Kamala Harris? Und wie beeinflusst das die wirtschaftlichen Prognosen? Lesen Sie die Einschätzung von Christian Brändli, Senior Economist North America.
Text: Christian Brändli
Nach seinem desaströsen Auftritt in der Fernsehdebatte Ende Juni ist der Druck auf Präsident Joe Biden, auf eine zweite Amtszeit zu verzichten, in den letzten Wochen immer grösser geworden.
In den Umfragen haben sich die Chancen von Präsident Biden auf eine Wiederwahl im November kontinuierlich verschlechtert. Jeder dritte Demokrat war zuletzt der Meinung, dass Präsident Biden seine Kandidatur beenden sollte. Zudem haben in den letzten Tagen immer mehr demokratische Kongressabgeordnete Präsident Biden aufgefordert, sich aus dem Präsidentschaftsrennen 2024 zurückzuziehen. Auch zahlreiche demokratische Grossspender schlossen sich dieser Forderung an und wollten kein Geld mehr für Bidens Präsidentschaftskampagne geben.
Am Sonntagabend gab der 81-jährige Biden seinen Verzicht auf eine weitere Amtszeit bekannt. Er begründete seinen Schritt damit, dass es im besten Interesse seiner Partei und des Landes sei, sich aus dem Rennen zurückzuziehen und sich auf die verbleibende Amtszeit als Präsident zu konzentrieren. Nach seinem Rückzug machte Biden deutlich, dass er Kamala Harris als neue Präsidentschaftskandidatin der Demokraten unterstützen werde. Ausserdem kündigte er an, sich im Laufe der Woche ausführlich zu seiner Entscheidung zu äussern.
An der Ausgangslage ändert sich nach gestern wenig: Trump bleibt Favorit für einen Sieg im November.
Christian Brändli, Senior Economist North America
Wie geht es mit der Kandidatenkür der Demokraten weiter?
Die Demokraten müssen nun schnellstmöglich eine geeignete Person für das Präsidentenamt finden, die für möglichst viele Amerikanerinnen und Amerikaner wählbar ist. Da die Zeit für neue Vorwahlen fehlt, wird die Entscheidung über die Nachfolge Bidens voraussichtlich auf dem Parteitag der Demokraten vom 19. bis 22. August fallen. Biden hatte bei den Vorwahlen 3'748 von 3'949 möglichen Delegiertenstimmen erhalten. Nach seinem Verzicht auf eine erneute Kandidatur wird er diese voraussichtlich freigeben und die Wahl seiner Wunschkandidatin Kamala Harris empfehlen. Stimmt die absolute Mehrheit dieser 3'949 Delegierten auf dem Parteitag für Kamala Harris, ist sie Präsidentschaftskandidatin. Erreicht Harris nicht die erforderliche Stimmenzahl, kommt es zu einem zweiten Wahlgang, bei dem zusätzlich die sogenannten 749 Superdelegierten, meist verdiente Parteigrössen oder Amtsträger, stimmberechtigt sind. Abgestimmt wird dann so lange, bis eine Kandidatin oder ein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht hat.
Denkbar ist auch ein «wilder» Parteitag, auf dem kurzfristig eine neue Kandidatur bestimmt wird. Für eine wilde Kandidatur benötigt eine Person mindestens 300 Unterschriften von rund 4'000 Parteidelegierten, die vor Ort auf dem Parteitag gesammelt werden. Solche wilden Parteitage gab es auch schon früher. Vor 1970 verliefen alle Parteitage so. Die Nominierungen wurden direkt von den Parteidelegierten vorgenommen und nicht wie heute demokratisch in Vorwahlen bestimmt.
Eine Handvoll Gründe für Kamala Harris
Neben Bidens Unterstützung gibt es mindestens fünf weitere Gründe, die für Kamala Harris sprechen:
- Geld: Ein wichtiges Argument für Harris ist die Wahlkampfkasse der Kampagne Biden/Harris. Diese kann nicht einfach geplündert werden. Die Biden/Harris Kampagne hat bisher über 230 Millionen Dollar gesammelt. Mehr als die Hälfte des Geldes ist bereits an die Partei und demokratische Organisationen verteilt worden. Die verbleibenden Wahlkampfgelder in Höhe von fast 96 Millionen Dollar wurden am Sonntagnachmittag auf den Namen von Harris übertragen und der offizielle Kampagne-Namen auf «Harris for President» geändert. Rechtliche und finanzielle Gründe sprechen also klar für Kamala Harris als neue Spitzenkandidatin der Demokraten.
- Legitimität: Harris ist die naheliegendste Nachfolgerin von Biden. Sie wurde 2020 mit einer soliden Mehrheit zur Vizepräsidentin gewählt und hat mit Biden im Frühjahr die Vorwahlen gewonnen.
- Geschichte: Kamala Harris hat als erste Vizepräsidentin mit afroamerikanischen und asiatischen Wurzeln bereits Geschichte geschrieben. Nun könnte sie auch die erste Präsidentin werden. Sie einfach zu übergehen, wäre riskant und könnte wichtige demokratische Wählergruppen vergraulen.
- Unterstützung: Bereits kurz nach Bidens Ankündigung, auf eine erneute Kandidatur zu verzichten, sprachen sich zahlreiche prominente Demokraten für Harris aus, darunter die Clintons.
- Parteieinheit: Die Bereitschaft vieler Demokraten, einen Monat vor dem Parteitag mehrere Kandidaten in einem offenen Rennen gegeneinander antreten zu lassen, dürfte eher gering sein. Ein offener Streit auf dem Parteitag könnte zudem schnell hässlich werden und die Partei spalten.
In den Medien wird über zahlreiche Alternativkandidaten spekuliert. Ein Problem dabei ist deren zumeist fehlende Bekanntheit auf nationaler Ebene. Zum anderen dürfte es schwierig sein, die Wahlkampforganisation von Biden/Harris ohne grössere Reibungsverluste zu übernehmen. Darüber hinaus gibt es in den Teilstaaten keine Umfragen zu den Erfolgsaussichten dieser potenziellen Kandidaturen, ihre Wahlchancen gegenüber Trump wären daher ungewiss. In einer nationalen Umfrage schneiden alle potenziellen Kandidaten im Direktvergleich mit Trump schlechter ab als Biden und Harris – mit Ausnahme von Michelle Obama, die sich aber wiederholt gegen einen Einstieg in die Politik ausgesprochen hat. Somit bleibt Kamala Harris die wahrscheinlichste Wahl.
Donald Trump bleibt Favorit
Der ehemalige Präsident Donald Trump bleibt nach den jüngsten Ereignissen der Favorit für den Sieg im November. Doch das Rennen ist noch nicht gelaufen und die Demokraten sind mit Kamala Harris nicht chancenlos. So zeigen Umfragen, dass Kamala Harris in einem Duell mit Donald Trump nicht schlechter abschneiden würde als Biden. Skeptische Demokraten könnten argumentieren, dass sie nicht die beste Kandidatin sei, um die Wahlkreise im Mittleren Westen zu gewinnen. Dieses Argument könnte Harris durch die geschickte Wahl eines Vizepräsidentschaftskandidaten etwas entkräften.
Ihre Kandidatur könnte auch von der Schwäche Trumps bei Frauen aus Vorstädten, bei Frauen mit College-Abschluss und bei Minderheiten profitieren, wo sie viel Wahlkampfarbeit geleistet hat und mit dem Wahlkampfthema Abtreibung punkten kann. Sollte es Kamala Harris also gelingen, den Stimmenanteil von Biden zu halten und zusätzlich einige unentschlossene Wählerinnen und Wähler oder sogenannte «Doppelhasser», sprich Wählende, die beide Kandidaten nicht mögen, sich aber dennoch für einen entscheiden, für sich zu gewinnen, liessen sie die Präsidentschaftswahlen im November vielleicht sogar gewinnen.
Was bedeutet dies für unsere Prognosen?
An der Ausgangslage ändert sich nach gestern wenig: Trump bleibt Favorit für einen Sieg im November. Die Experten der Zürcher Kantonalbank ändern daher nichts am aktuellen Seznario. Zudem besteht nach wie vor grosse Unsicherheit darüber, wie Trumps Politik im Detail aussehen wird. Eine zweite Trump-Administration würde sich wahrscheinlich zunächst auf die Handels- und Einwanderungspolitik konzentrieren, die Details seiner Vorschläge sind aber noch unklar. Würde insbesondere der vorgeschlagene allgemeine Importzoll von 10 Prozent für alle Waren und alle Länder gelten? Oder gäbe es Ausnahmeregelungen für einzelne Güter oder enge Handelspartner? Die Auswirkungen auf die Realwirtschaft hängen wiederum davon ab, ob die Einnahmen zum Defizitabbau verwendet werden oder über Steuersenkungen in die Wirtschaft zurückfliessen.
Was die Einwanderung betrifft, so werden Trumps Pläne zur Reduzierung der legalen und illegalen Einwanderung mit Sicherheit vor Gericht angefochten werden. Der Ausgang dieser Anfechtungen wird darüber entscheiden, wie stark die Auswirkungen auf Bruttoinlandsprodukt und Inflation sein werden und ob die US-Notenbank reagieren muss. Klar ist jedenfalls, dass bei einem Wahlsieg Trumps im November die Wachstumsprognosen tendenziell nach unten und die Inflationsprognosen nach oben korrigiert werden müssten. Bevor dies jedoch in den Prognosen berücksichtigt werden kann, muss mehr Klarheit über die Details der zu erwartenden Politikänderungen herrschen.