Die Wieder­entdeckung der Atomkraft

Die Atomkraft erlebt weltweit ein Comeback. Klimawandel und steigende Elektrizitätsnachfrage führen zu einer Neubewertung der Kernenergie. Neue Technologien wie Small Modular Reactors (SMRs) bringen neue Impulse in einen fast vergessenen Bereich der Elektrizitätserzeugung.

Text: Silke Humbert

«Die Rückkehr der Atomkraft zeigt, wie in Zeiten des Klimawandels Energieoptionen neu bewertet werden. Emissionsarme Technologien wie die Kernenergie spielen mittlerweile für Länder in Asien eine entscheidende Rolle in der nachhaltigen Energiezukunft», erklärt Silke Humbert. (Bild: Getty Images)

Lange galt die Kernkraft als Auslaufmodell. Stammte in den 1990er-Jahren weltweit knapp 20 Prozent der Elektrizität aus der Kernkraft, sind es heute etwa 10 Prozent. Doch der Wind hat gedreht. Mittlerweile mehren sich die Ankündigungen zu neuen Atomkraftprojekten.

  • An der Klimakonferenz COP28 wurde die Atomkraft rehabilitiert. 22 Länder bekundeten ihre Absichten, den Einsatz von Kernenergie bis 2050 zu verdreifachen. Die Schweiz und Deutschland sind nicht dabei, Frankreich hingegen schon.
  • Chinas Entwicklung ist nicht mehr bloss eine Zukunftsambition, sondern bereits Realität: Das Reich der Mitte hat seine Atomkraftkapazitäten in den letzten zehn Jahren verdreifacht.
  • Microsoft lässt in gewisser Weise Tote auferstehen: Das Unternehmen hat durch einen Stromabnahmevertrag über 20 Jahre die Wiederinbetriebnahme des vor fünf Jahren stillgelegten US-Kernkraftwerks «Three Mile Island» ermöglicht.

Wer sich noch an die Anti-Atomkraft-Bewegung erinnert, fragt sich, was zum Umdenken geführt hat.

Die neue Ausgangslage …

Entweder sind neue Fakten aufgetaucht, die zu einem revidierten Urteil über die Kernkraft führen, oder die Öffentlichkeit bewertet die Chancen und Risiken heute anders als vor 50 Jahren. Tatsächlich ist es beides – gepaart mit einer Prise Hoffnung. Fangen wir mit den Fakten an. Die Proteste der Atomkraftgegner hatten ihren Höhepunkt in den 1970er- und 1980er-Jahren. Erst ab der 2000er-Jahre war die Existenz des menschenverursachten Klimawandels nicht mehr umstritten, und man machte sich ernsthaft darüber Gedanken, wie der Ausstieg aus den fossilen Energien gelingen könnte. Mittlerweile ist klar, dass sich die Elektrizitätsnachfrage bis 2050 mindestens verdoppeln wird. Die Erfahrungen mit erneuerbaren Energien rücken wetterunabhängige Energiequellen wieder mehr in den Fokus. Leistungsfähige Reaktoren zu bauen, scheint zudem einfacher als komplexe dezentrale Infrastrukturen auszubauen.

… führt zu einer Neubewertung

Der Vorteil der emissionsarmen Energieerzeugung von Kernreaktoren lässt die zuvor intensiv diskutierten Sicherheitsrisiken und die Endlagerproblematik in einem anderen Licht erscheinen. Eine Neubewertung hat auch in puncto Kosten stattgefunden. Dass die zuletzt in Europa und den USA gebauten Reaktoren doppelt so viel kosteten wie veranschlagt, dämpft den neu erwachten Optimismus für die Kernkraft wenig. Mit den «Small Modular Reactors» (SMRs) sind neue Reaktorvarianten entstanden, die etwa ein Drittel der Leistung herkömmlicher Reaktoren aufweisen. Sie sollen serienmässig hergestellt und vor Ort modular zusammengebaut werden. Hier kommt die Prise Hoffnung ins Spiel, dass sich mit der Herstellung vieler kleiner Reaktoren Skalenerträge ergeben, wodurch die Baukosten pro Stück sinken. Weltweit existieren etwa 100 Designs für den Bau von Minireaktoren; hergestellt wurden bisher nur zwei Varianten in Russland und in China. Es stellt sich die Frage, wie stark die Fixkosten beim AKW-Bau mit allen Genehmigungen und Sicherheitsvorkehrungen tatsächlich gesenkt werden können. Früher waren gerade die hohen Fixkosten ein Grund dafür, grosse Reaktoren zu bauen. Um die damalige Logik zu verstehen, sei auf ein Plakat von Schweizer Aktivisten in den 1970er-Jahren verwiesen, auf dem stand: «1,5 Millionen Einwohner leben in nächster Nähe von 6 Atomkraftwerken. Einmalig auf der Welt!»

Atomkraft, ja danke?

Angesichts der neuen Ausgangslage sollten alle Energiequellen in Betracht gezogen werden. Kernkraft ist insofern nicht nachhaltig, als dass sie die zukünftigen Generationen belastet; sie hat aber den grossen Vorteil, keine Treibhausgase auszustossen. Schnell und günstig ist der Bau von Atomreaktoren im Westen jedoch nicht. Auch das erste Projekt zum Bau von mehreren SMRs in den USA ist vor etwa einem Jahr aufgrund zu hoher Kosten auf Eis gelegt worden. Für andere Länder hingegen fällt die Rechnung zur Atomkraft anders aus; für sie heisst es seit geraumer Zeit schon: «Atomkraft, ja danke.»