«Der kranke Mann Europas»
Die grösste Volkswirtschaft der Eurozone wird deshalb seit geraumer Zeit als «der kranke Mann Europas» bezeichnet. Dieser Ausdruck ist nicht neu, sondern wurde bereits 2003 von Hans-Werner Sinn, einem der renommiertesten und einflussreichsten deutschen Ökonomen, in einer Rede für Deutschland geprägt. Viele der damaligen Probleme werden auch heute debattiert. Dazu gehören die hohe Steuerlast für Arbeitnehmende und Unternehmen, der stark ausgebaute Sozialstaat, der rigide Arbeitsmarkt und die hohe Abhängigkeit vom Exportsektor und damit von den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen im Ausland.
Mit dem Ukraine-Krieg wurde zudem jüngst die starke Abhängigkeit der deutschen Industrie von billigem russischen Erdgas offenbart. Viele Firmen in Sektoren wie der Chemie- oder Metallindustrie verschieben ihre energieintensiven Wertschöpfungsprozesse deshalb vermehrt ins Ausland, wo die Energiesicherheit höher und die Gaspreise tiefer sind. Und da China vom Abnehmer deutscher Fahrzeuge zum Mitbewerber im wachsenden Markt für Elektromobilität mutiert ist, fällt eine zusätzliche Wachstumsstütze der deutschen Exportindustrie weg.
Der grosse Unterschied zum «kranken Mann Europas» von 2003 ist allerdings die Verfassung des deutschen Arbeitsmarktes. Vor zwanzig Jahren nannte Hans-Werner Sinn die hohe Arbeitslosigkeit als das zentrale Problem Deutschlands und bezeichnete sie als «sozialen Sprengsatz, der, wenn er erst einmal gezündet wird, grössten Schaden anrichten kann». Damals lag die Arbeitslosenrate im zweistelligen Bereich und stieg bis 2005 auf 12 Prozent an. Heute ist sie trotz der rekordhohen Zuwanderung aus der Ukraine weniger als halb so hoch. Der Vergleich des damaligen kranken Mannes Europas mit dem heutigen Deutschland hinkt also – zumindest was den Arbeitsmarkt betrifft.
Wachstum mit angezogener Handbremse
Es ist nicht besonders schwierig, pessimistisch für Deutschland zu sein. Und trotzdem muss zwischen strukturellen und konjunkturellen Sorgen unterschieden werden. So hat die hohe Inflationsrate zu enormen Kaufkraftverlusten bei der Bevölkerung geführt, da das Lohnwachstum mit der Preisentwicklung nicht Schritt halten konnte. Hinzu kommt, dass die restriktive Geldpolitik die Wirtschaft in Deutschland stärker ausbremst als anderswo, weil der zinssensitive Industriesektor bei unserem nördlichen Nachbarn einen grösseren Anteil an der Gesamtwirtschaft ausmacht. Diese Faktoren sind mit ein Grund für die derzeitige deutsche Baisse und somit hauptsächlich temporärer Natur.
Die sich abzeichnende Normalisierung bei der Inflation und der Geldpolitik wird den Konsumentinnen und Konsumenten sowie den Firmen wieder etwas grösseren finanziellen Handlungsspielraum verschaffen. Darüber hinaus hat sich die Lage am europäischen Erdgasmarkt deutlich entspannt. Trotz struktureller Probleme in der Industrie stehen die Chancen gut, dass die Wirtschaftslage in Deutschland bald wieder etwas freundlicher wird. Wichtige Vorlauf- und Stimmungsindikatoren zeigen denn auch bereits seit einigen Monaten wieder nach oben.
Tutto bene? Todo bien?
Dass die Eurozone in den letzten zwei Jahren trotz des Krebsgangs der deutschen Wirtschaft nicht in eine Rezession abgerutscht ist, ist zur Überraschung vieler den grossen Peripherieländern Italien und Spanien zu verdanken. Dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie, waren sie doch die Protagonisten der letzten tiefen Wirtschafts- und Währungskrise im Euroraum der 2010er-Jahre. Damals hatte der geldpolitische Straffungszyklus zwischen 2005 und 2008 die Ungleichgewichte innerhalb der europäischen Länder offengelegt. Die hohe Verschuldung der öffentlichen Hand und der Privathaushalte in Kombination mit angeschlagenen Banken und schwachen Wachstumsaussichten in der Peripherie hatte wenige Jahre später zu massiven Renditeaufschlägen bei Staatsanleihen geführt. Im aktuellen Umfeld gibt es davon weit und breit keine Spur (vgl. Grafik).
Renditedifferenz zehnjähriger italienischer zu deutschen Staatsanleihen