Dialog fördern und Transparenz schaffen
Wir Menschen werden immer älter. Welche Herausforderungen bringt das mit sich, im Sozialen wie im Finanziellen? Christina Röcke vom Healthy Longevity Center der Universität Zürich, und Andreas Habegger, Leiter Finanzplanung und Vorsorge bei der Zürcher Kantonalbank, sprechen über Ressourcen und Normen, über Rückzug und Aktivierung, über Verluste und Gewinne.
Interview: Patrick Steinemann / Bilder: Lea Meienberg / Illustration: Maria Salvatore | aus dem Magazin «Meine Vorsorge» 1/2025
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Der Begriff des Alterns ist häufig negativ konnotiert. In Ihrer Forschung untersuchen Sie, Frau Röcke, hingegen die «gesunde Langlebigkeit» – eine bewusst gewählte Formulierung?
Christina Röcke: Ja. Er legt den Fokus darauf, dass Gesundheit am Lebensende nicht erst im Alter beginnt, sondern davon abhängt, wie man sein ganzes Leben gelebt hat. Wir fragen uns, was es eigentlich genau bedeutet, älter zu werden. Wir betrachten dabei eine Vielfalt von Aspekten wie das Wohlbefinden, soziale Beziehungen, körperliche und mentale Gesundheit. Ziel unserer Untersuchungen ist es, die Unterschiede zwischen älteren Menschen erklären zu können.
Sie plädieren auch dafür, dass sich ältere Menschen an bedeutsamen und produktiven Aktivitäten beteiligen können sollen.
Röcke: Gesundes oder erfolgreiches Altern wurde früher häufig nur über objektive Gesundheitsmarker definiert. Die Weltgesundheitsorganisation hat in den letzten Jahren ihr Augenmerk jedoch vermehrt auf die funktionale Fähigkeit gelegt. Also: Was ist älteren Menschen wichtig und wie viel davon können sie im Alltag noch umsetzen? Können sie ihre Ziele noch erreichen? Wo liegen ihre Ressourcen, wo braucht es Unterstützung? Da spielt eine Sinnfrage mit rein und auch die Frage nach den gesellschaftlichen Gegebenheiten. Etwa: Können ältere Menschen beruflich noch aktiv sein, auch über das Pensionsalter hinaus? Oder: Können sie sich gesellschaftlich engagieren?
Dr. Christina Röcke
Christina Röcke ist Co-Direktorin und Geschäftsführerin am Healthy Longevity Center der Universität Zürich. Sie hat im Fach Psychologie promoviert. Röcke forscht unter anderem zu emotionaler Gesundheit und Alltagsaktivitäten im hohen Erwachsenenalter und den Dynamiken des gesunden Alterns.
Andreas Habegger
Andreas Habegger ist Leiter Finanzplanung und Vorsorge bei der Zürcher Kantonalbank. Er hat an der Kaderschule Zürich einen Abschluss als Betriebsökonom erworben sowie Weiterbildungen in Financial Consulting und General Management absolviert.
Altern sei als Entwicklungsprozess zu verstehen mit Gewinnen und Verlusten über die gesamte Lebensspanne, haben Sie einmal gesagt.
Röcke: Wenn wir die Lebensspanne als Ganzes betrachten und Altern als dynamischen Anpassungsprozess definieren, dann stellen wir fest, dass wir bereits in der Kindheit Dinge wieder verlieren, die wir ganz früher beherrscht haben, etwa beim Spracherwerb. Im Gegensatz dazu sind auch Personen im hohen Alter noch lernfähig, oder sie werden gelassener. Doch es ist insgesamt natürlich schon so, dass wir in der Kindheit eher auf der Gewinnerseite stehen und im Alter die Verluste dann zunehmen. Für ein differenziertes Bild ist es jedoch wichtig, beides zu betrachten.
Aus finanzieller Sicht werden die «Gewinne» –in Form steigender Lohneinnahmen – hauptsächlich während der Erwerbstätigkeit realisiert, die «Verluste» zeigen sich – in Form eines knapper werdenden persönlichen Budgets – eher im dritten Lebensabschnitt nach der Pensionierung. Stimmt diese Beschreibung, Herr Habegger?
Andreas Habegger: Vereinfacht gesprochen: ja. Den Grossteil unseres Lebens finanzieren wir durch unser Erwerbseinkommen. Während dieser Zeit sollten wir ebenso nach vorne schauen und an jene Zeit denken, in der wir nicht mehr erwerbstätig sein wollen oder können. Grob gesagt haben wir rund 40 Jahre Zeit, um so viel Geld anzusparen, damit wir nachher noch mindestens 20 Jahre davon leben können. Wir haben jedoch möglicherweise auch während des Erwerbslebens Phasen des finanziellen «Verlustes», etwa während der Familienzeit oder bei Weiterbildungen mit höheren Ausgaben und vielleicht Teilzeitarbeit.
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Wir müssen uns als Gesellschaft fragen, welches Bild wir vom Alter und älteren Menschen haben wollen.
Christina Röcke, Universität Zürich
Vor 50 Jahren lag die Lebenserwartung der Menschen noch viel tiefer. Heute leben die Menschen 20 und mehr Jahre «in Rente». Kann das aufgehen mit den persönlichen Finanzen?
Habegger: Das Bewusstsein unserer Gesellschaft für diese Problematik muss geschärft werden. Wenn wir unsere jährlichen Ausgaben mit 20 multiplizieren, resultiert meist ein Millionenbetrag. Wollen wir den Gürtel nicht enger schnallen, müssen wir uns dem bewusst werden. Dabei dürfen wir auch den möglichen Pflege- und Betreuungsbedarf am Lebensende nicht ausser Acht lassen, beides kann immense Kosten verursachen.
Zu jeder Entwicklung können wir einen eigenen Beitrag leisten. Wie werten wir unsere Langlebigkeit zu etwas Positivem auf, Frau Röcke?
Röcke: Zu nennen sind hier die Klassiker: Sportlich aktiv sein, soziale Kontakte pflegen, Stress reduzieren. Die Ernährung spielt ebenso eine entscheidende Rolle für die körperliche Gesundheit. Es gibt aber auch noch die kognitive Gesundheit: Hier ist es wichtig, sich immer mal wieder selbst herauszufordern, neue Dinge auszuprobieren, Routinen zu verlassen. Idealerweise können wir bei diesen Aktivitäten verschiedene körperliche, geistige und soziale Aspekte miteinander kombinieren.
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Wer Transparenz schafft, kann bewusst die richtigen Entscheidungen treffen und bleibt nicht nur finanziell in allen Lebenslagen flexibel.
Andreas Habegger, Zürcher Kantonalbank
Ganz allein stemmen müssen wir die Alterszeit zum Glück nicht – unsere Vorsorgesysteme sind gut organisiert. Die zunehmende Langlebigkeit stellt allerdings auch die AHV und die berufliche Vorsorge (BVG) vor Herausforderungen.
Habegger: Es ist ganz klar, dass es mehr Geld braucht, um eine längere Altersphase finanzieren zu können. Der Hauptvorteil von AHV und BVG ist, dass die beiden Säulen der finanziellen Vorsorge unterschiedlich finanziert werden. Beim Umlagesystem der AHV haben Änderungen unmittelbare Auswirkungen, etwa durch die Einführung der 13. AHV-Rente. Hier haben wir die Herausforderung, genügend Beitragszahlende zu haben, welche die Rentnerinnen und Rentner von morgen finanzieren. Bei der zweiten Säule, mit der wir grundsätzlich für uns selbst sparen, sind Veränderungen immer langfristig. Ziel ist es, im Zusammenspiel der beiden Säulen eine möglichst grosse Stabilität und Verlässlichkeit zu erhalten.
Mit einer privaten Vorsorge, etwa über die Säule 3a, können wir ein längeres Leben zusätzlich finanziell absichern. In diesem Bereich gibt es aber kontroverse politische Diskussionen.
Habegger: Das steuerbegünstigte Sparen über die Säule 3a bietet einen guten Anreiz, finanziell für sich selbst vorzusorgen – auch wenn nicht alle in der Lage sind, sich hier zu beteiligen. Das politische Tauziehen zeigt sich bei der Säule 3a aber deutlich. Während seit dem 1.1.2025 entstandene Beitragslücken in der Säule 3a nachbezahlt werden können, sieht der Vorschlag für das Sparpaket des Bundes eine Steuererhöhung für Kapitalleistungen aus der beruflichen Vorsorge vor. Ob diese Massnahme umgesetzt wird, werden wir sehen. Aus meiner Sicht braucht es gewisse Anreize, damit die Menschen zum eigenverantwortlichen Handeln, sprich: zum Sparen, finden. Denn sonst bringen wir junge Menschen nicht dazu, finanziell etwas fürs Alter zu tun.
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Die Zahl alter Menschen wird weiter zunehmen. Wie kann die Gesellschaft als Ganzes die Herausforderungen des demografischen Wandels stemmen, Frau Röcke?
Röcke: Wir müssen uns als Gesellschaft stärker fragen, welches Bild wir von älteren Menschen und vom mit dem Alter verbundenen Entwicklungsprozess haben – und haben wollen. Früher haben wir unseren Blick eher dem Rückzug gewidmet: das Ausscheiden aus dem Beruf und die Aufgabe der sozialen Rollen. Das wird jetzt langsam abgelöst durch eine Aktivierungsnorm: Ältere Menschen sollen weiterhin aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Aus meiner Sicht wäre ein ausgewogenes Bild vom Altern wichtig, eines, welches die Vielfalt zeigt. Denn Altersbilder haben einen ganz zentralen Einfluss auf Gesundheit und Langlebigkeit. Ich plädiere hier für ein partizipatives Vorgehen, das sowohl ältere wie auch jüngere Menschen miteinbezieht in den Dialog.
Und welche Hausaufgaben muss das Vorsorge- und Finanzsystem lösen, um mit der Langlebigkeit umgehen zu können?
Habegger: Wir sollten sämtliche Lebensphasen finanziell bewusst anschauen und uns aktiv mit allen «Gewinnen» und «Verlusten» auseinandersetzen. Beim System der finanziellen Vorsorge wird es immer Veränderungen brauchen. Diese hinken jedoch aufgrund des politischen Diskurses hinterher und brauchen von allen Seiten eine gewisse Kompromissbereitschaft. Eigenverantwortliches Handeln ist immer ein guter Rat. Wer Transparenz schafft, kann bewusst die richtigen Entscheidungen treffen und bleibt nicht nur finanziell in allen Lebenslagen flexibel.
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Darauf kommt es an bei Langlebigkeit und Vorsorge
- Machen Sie sich Gedanken zum dritten Lebensabschnitt: Wie sehen Ihre Ziele aus? Über welche Ressourcen verfügen Sie? In welchen Bereichen möchten Sie sich nach der Pensionierung engagieren?
- Investieren Sie in Ihre körperliche und kognitive Gesundheit: Fordern Sie sich selbst heraus, durchbrechen Sie gelegentlich Routinen und probieren Sie neue Dinge aus. Körperliche, geistige und soziale Aspekte lassen sich auch kombinieren.
- Befassen Sie sich mit Ihrer finanziellen Vorsorge: Welche Pläne haben Sie für den dritten Lebensabschnitt? Und welche finanziellen Mittel sind dafür nötig? Eine finanzielle Planung für den dritten Lebensabschnitt bringt Aufschluss.
- Lassen Sie sich von Profis beraten: Das Zusammenspiel der verschiedenen Säulen der finanziellen Vorsorge und die steuerlichen Fragen können komplex sein. Expertinnen und Experten können Sie mit Rat und Tat unterstützen.